Vergeben und Vergessen?

Vergebung ist ein zentraler Begriff für Christen. Wir werden besonders im Neuen Testament an unzähligen Stellen aufgefordert zu vergeben. Wie allerdings Vergebung geht und „funktioniert“, dazu finden wir in der Bibel kaum Anhaltspunkte. Darum haben wir oft eine sehr eingeschränkte Vorstellung, was Vergebung ausmacht. Dieses Material will helfen, Vergebung besser zu verstehen.
Vergeben und Vergessen?

1. Worum geht’s?

Wenn es hier um Vergebung im Zusammenhang mit sexuellem Missbrauch geht, müssen wir uns einige Tatsachen bewusst machen. Jedoch kann hier nur eine Auswahl an Vorüberlegungen erwähnt werden.

Sexuelle Gewalt wird häufiger an Kindern christlicher Elternhäuser verübt, als allgemein hin bekannt ist.Sexuelle Gewalt wird häufiger an Kindern (bzw. später Jugendlichen) christlicher Elternhäuser verübt, als allgemein hin bekannt ist. Kinder sind Menschen, die sich mitten im Entwicklungs- und Reifungsprozess befinden und durch (womöglich permanente) Gewalteinwirkung erheblich geschädigt und für ihr weiteres Leben negativ belastet werden.

Wird unter dieser Prämisse ein Mensch mit dem Thema Vergebung konfrontiert, löst dass meist sehr ambivalente Gefühle aus. Hinzu kommt, dass in christlichen Kreisen gut gemeinte Ratschläge bzw. Forderungen wie „Du musst vergeben!“ den Betroffen noch mehr unter Druck setzen. Dadurch wird eine Vergebung praktiziert, die keine ist (sondern nur Verdrängung, Bagatellisierung) und das Opfer plagt sich mit zusätzlichen Schuldgefühlen herum, weil es nicht „richtig“ vergeben kann.

Wollen wir uns anhand der Bibel diesem hochsensiblen Thema nähern, sollte bei aller Forderung nach Vergebung die Barmherzigkeit, Liebe und Geduld Gottes mit den Betroffenen an erster Stelle stehen. Verletzte Menschen haben den Schmerz der Verwundung so fest in ihr Leben und vielleicht auch in ihre Persönlichkeit integriert, dass sie nicht einfach das, was so schmerzhaft ist, loslassen können. Es muss ein Verarbeitungs- und Heilungsprozess in Gang kommen, in dessen Ende die Vergebung integriert wird, und nicht am Anfang. Und es ist notwendig, sich bewusst zu werden, dass Vergebung nicht in erster Linie zur Rehabilitation des Täters da ist, sondern dem Betroffenen selbst zu gute kommen muss.

2. Mit wem haben wir’s zu tun?

Hinweis zur Durchführung:

Nicht nur der Mitarbeiter, der die Jugendstunde hält, soll gut vorbereitet sein, sondern auch andere, am besten weibliche Mitarbeiter, die eine seelsorgerliche Begabung haben, da es sein kann, dass betroffene Personen, meist Mädchen, bei dem Thema ihre Betroffenheit nicht mehr verbergen können, etwas aufbricht und sie (wo möglich längere Zeit) seelsorgerlichen Beistand benötigen.
Ist das der Fall, die Person auf jeden Fall ernst nehmen in ihren Äußerungen (nicht hinterfragen oder nachbohren), jedoch während des Gespräches nicht tiefer in die Thematik eintauchen. Es ist wichtiger, dass die betroffene Person erst einmal wieder „Boden unter die Füße bekommt“ und zu einem gegebenen Zeitpunkt mit fachkundigen Personen das Geschehene besprochen und aufgearbeitet wird.

3. Worauf wollen wir hinaus?

Ein falsches Verständnis von Vergebung bedeutet großen Druck für den Betroffenen.Betroffene sollen entlastet werden, ein möglicherweise falsches Verständnis von Vergebung, das meist mit sehr viel Druck verbunden ist, zu revidieren und damit den Weg zu bereiten, sich für eine seelsorgerliche Begleitung zu öffnen, da die Betroffenen nicht erwarten müssen, dass das Geschehene bagatellisiert wird, oder sofort das Geschehene mit sog. Vergebung zugedeckt bzw. verdrängt wird.

4. Wie gehen wir vor?

4.1. Einstieg

Material: 2 große Bögen Papier mit jeweils dem Begriff „Vergebung“ und „Sexueller Missbrauch“
  • Brainstorming zu den Begriffen „Vergebung“ und„sexueller Missbrauch“, beides in MindMap-Methode.
  • Die Jugendlichen teilen sich in 2 Gruppen auf. Sie sollen sich jeweils zu einem Thema Gedanken machen und aufschreiben, was ihnen (ungefiltert) dazu einfällt.
  • Dazu werden die Begriffe jeweils auf ein großes Stück Papier geschrieben und die Jugendlichen schreiben ihre Gedanken dazu.
  • Die linke Seite von dem Blatt „sexueller Missbrauch“ und die rechte Seite von „Vergebung“ bleiben frei, so dass nach der Brainstormingrunde beide Blätter nebeneinander an die Wand gehängt werden können und eine Gegenüberstellung erfolgen kann.

Frage an die Gruppe:

Kann man beide Themen miteinander Verknüpfen, in Verbindung bringen?

4.2. Bildliche Verdeutlichung

Material: ein Sack, beschriftet mit „Sexueller Missbrauch“ oder „Sexuelle Gewalt“
ca. 10 – 15 faustgroße Steine, die z.T. mit den Worten aus Punkt 4.2.5 beschriftet sind
ein Sack, der wesentlich kleiner als der erste ist, und in dem nicht alle Steine des ersten Sacks auf einmal darin Platz haben, beschriftet mit „Vergebung“

Durchführung:

4.2.1. Der Hintergrund

Der MA legt den Sack „sexueller Missbrauch“ auf den Boden in die Kreismitte und erklärt, dass es viele Menschen gibt, die so etwas mit sich herum schleppen und erklärt erst einmal, was sexueller Missbrauch überhaupt ist (und greift die Meinungen aus dem Brainstorming auf). Siehe dazu auch das Material „Sexuelle Gewalt gegen Kinder“.

4.2.2. Die Folgen

Er erklärt kurz die Folgen bzw. Auswirkungen, an denen die Betroffenen leiden (können):

  • Angst (vor Menschen, bestimmten Situationen u.s.w.)
  • Misstrauen (aus Angst enttäuscht oder wieder ausgenutzt zu werden)
  • Schuldgefühle (dass die Person provoziert habe)
  • Einsamkeit (weil der Person nicht geglaubt wird, sie das „Geheimnis“ mit sich herum trägt)
  • Psychosomatische Erkrankungen (z. B. Schmerzen)
  • Psychische Erkrankungen (z. B. Depressionen) bis hin zu Persönlichkeitsstörungen (z.B. Borderline-Persönlichkeiten)

Diese Symptome prägen das ganze Leben (das Fühlen, Denken, Verhalten).

4.2.3. Vergebung?

Gerade im NT lesen wir oft die Aufforderung zur Vergebung. Aber nirgendwo wird erklärt, dass es ein Prozess ist und wie er „funktioniert“.Was passiert mit dem Mensch, wenn er jetzt aufgefordert wird, er soll vergeben?
Der Mitarbeiter nimmt den Sack „Vergebung“ und versucht den Sack „Sexueller Missbrauch“ hineinzustopfen, was aber nicht gelingt (bitte vorher testen).
Praktisch heißt das, der Betroffene gerät unter Druck, weil er diese gutgemeinte Forderung nicht erfüllen kann. Er kann maximal die Vergebung wie eine Mütze überstülpen (Sack „Vergebung“ wird dem anderen aufgesetzt). Der Betroffene glaubt dann vielleicht, dass er vergeben konnte, aber sein Leben wird immer noch von dem traumatischen Erlebnis bestimmt, er hat es verdrängt, damit es nicht mehr so weh tut.

4.2.4. Was also tun?

Um zu wissen, wie man damit umgeht, muss man wissen, was Vergebung (nicht) ist.
Frage an die Teilnehmer:

Was ist Vergebung?
  • Brainstorming „Vergebung“ mit einbeziehen.
  • Vergebung ist, die Schuld (sei es meine eigene oder die, mit der andere an mir schuldig geworden sind) an Gott abgeben.
  • Was sagt die Bibel über Vergebung, bzw. über den Umgang mit an mir begangener Schuld?
  • Folgende Bibelstellen werden in der Gruppe nachgeschlagen und vorgelesen und mit eigenen Worten wiedergegeben.
    • Matthäus 18, 15 – 18 - Gleichnis von dem Schuldner
    • Matthäus 6,12.15
    • Lukas 17,3b – 4
    • Kolosser 1,14
    • Kolosser 3,13
    • Hebräer 10,18

Gerade im NT lesen wir oft die Aufforderung zur Vergebung. Aber nirgendwo wird erklärt, dass es ein Prozess ist und wie er „funktioniert“. Darum denken wir oft, mit dem Satz „Ich vergebe dir.“ sei wieder alles wie früher oder zumindest in Ordnung gebracht. Dazu kommen falsche Vorstellungen von Vergebung:

  • dass man den Missbrauch einfach aus dem Gedächtnis streicht u. vergisst (Verdrängung)
  • dass man das Verhalten den Täters entschuldigt (als träfe ihn keine Schuld)
  • dass man das Problem beschönigt (um des lieben Friedens willen seine Not bagatellisieren)
  • dass man den Täter akzeptiert („Wir vergeben den Menschen, weil sie gut zu uns sind. Wir vergeben den Menschen das Böse, das sie uns getan haben.“)
  • dass man das Verhalten des Täters toleriert und „ihm einen Freibrief gibt, es wieder zu tun“. (aus „Brecht das Schweigen“ S.75)

Das bedeutet Vergebung NICHT!
Nachdem die Bibelstellen und Thesen gelesen wurden, kann Raum für eine Diskussion in der Gruppe sein mit der Fragestellung:

Widersprechen die Thesen der biblischen Grundlage?

4.2.5. Zurück zu den Steinen im Sack

Was kann eine betroffene Person also damit tun? Wie kann sie diese Last an Gott abgeben? Sie kann die Steine einzeln hervorholen, genau anschauen und gemeinsam mit seelsorgerlicher Begleitung vor Gott bringen. Und es ist oft erstaunlich und erschreckend, was in dem Sack alles drin ist. Dabei wird deutlich, dass Vergebung ein lang andauernder Prozess ist, der mit anderen inneren Heilungsprozessen einhergeht.

An dieser Stelle holt der Mitarbeiter die beschrifteten Steine einzeln aus dem Sack „Sexueller Missbrauch“, erläutert diese und legt sie danach einzeln in den Sack „Vergebung“. Jeder einzelne Stein wird nach und nach dann im Gebet an Gott abgeben. Als bildhafte Illustration können die Grafi ken (siehe Anhang) verwendet werden. Stichworte für die Beschriftung der Steine:

  • meine Vorstellung von Gott (grausamer Herrscher, strenger Vater, fremdes Wesen…)
  • Misstrauen
  • Angst
  • Hass
  • Falsche Schuldgefühle
  • Minderwertigkeitsgefühle
  • Bitterkeit
  • Einsamkeit

Es gibt noch viel mehr „Steine“, die Betroffene mit sich herum schleppen. Oft wissen sie selbst nicht so genau, was sie alles mit sich herum tragen. Vergebung heißt also nicht nur, dem Täter zu verzeihen, sondern einen Veränderungs- und Heilungsprozess zu durchlaufen.

4.3. Vertiefung

Material: Bibel, Zettel, Stift, Briefumschlag für jeden Teilnehmer
CD-Player, CD mit Musik, die sich als Hintergrundmusik eignet
Du bist mein groß kopiert (evt. 2-4-mal, damit alle Teilnehmer es richtig sehen können)

Durchführung:

In der Vertiefung geht es darum, das Gehörte auf sich selbst zu übertragen. Da jeder Mensch, egal ob er Opfer sexuellen Missbrauchs geworden ist oder nicht, Verletzungen erlebt hat, werden die meisten Teilnehmer zu diesem Psalm Zugang finden (wenn sie ehrlich zu sich selbst sind). Es geht darum, der emotionalen Ebene Raum zu geben und über sich selbst unter dem Stichwort „Verletzung“ wahr zu nehmen und Gedanken zu machen. Aus diesem Grund ist dieser Teil sehr persönlich gestaltet. Und es soll eine Möglichkeit sein, die „Steine“ an Gott abzugeben.

In der Bibel gibt es nur eine Begebenheit, wo von sexueller Gewalt (in der Familie!) berichtet wird 2 Samuel 13,1-22. Aber wir lesen immer wieder von Menschen die in großer innerer und äußerer Bedrängnis lebten und sehr verzweifelt waren. Und diese Menschen haben ihre Gefühle und Gedanken oft sehr bildhaft ausgedrückt. Ein Mitarbeiter (der sich darauf vorbereitet hat) liest Psalm 58 möglichst ausdrucksvoll vor, die anderen lesen leise mit.

In diesem Psalm wird deutlich:

  • Wir können mit Gott reden, wie uns gerade zu mute ist. Wir müssen unsere Gefühle nicht in fromme Worte packen, damit sie bei Gott
    ankommen.
  • Gott wird für Recht sorgen und die Übeltäter bestrafen.

Solche Psalmen sind für Menschen, die emotional sehr verletzt worden sind, sehr entlastend, da sie sich darin wieder finden können bzw. diese Gebete als Beispiel dienen, wie wir mit Gott reden können.

Nachdem der Psalm gelesen wurde, besteht für die Teilnehmer die Aufgabe darin, sich über die eigenen Verletzungen Gedanken zu machen, sie evtl. zu notieren und im Anschluss ein selbstformuliertes Gebet (Psalm), in dem diese Last zum Ausdruck kommt, aufzuschreiben. Das wird in einen Briefumschlag gesteckt, der mit Namen versehen ist. Dieser Briefumschlag wird mit zu den Steinen gelegt.

Der Mitarbeiter legt danach das Bild (Grafik 9) darüber und erläutert, dass wir nicht mit den Verletzungen allein bleiben müssen, sondern in Gott geborgen sind und sie auch an ihn abgeben können. Gut ist, wenn ein Gesprächsangebot für nach der Gruppenstunde gemacht wird, da es sein kann, dass Teilnehmer emotional sehr bewegt worden sind.

Der Psalm wird nochmals gelesen, aber jetzt auf persönlichen Hintergrund mitgehört. Danach singt die Gruppe das Lied „Keiner ist wie du“ (Wiedenester Liederbuch Nr. 61) oder / und „Dass ich zu dir kommen darf“ (Wiedenester Liederbuch Nr. 114). Danach können die Teilnehmer ihre Briefumschläge wieder zu sich nehmen.

5. Was brauchen wir?

  • Handbuch sexuelle Gewalt; Elfi Brinkman und Sandy Hoffmann (Hrsg.), Brendow-Verlag S. 115 – 16; 176 –193; 238 – 244
  • Vergebung als Lebenskunst, Befreiender Umgang mit Verletzungen; Martin Grabe; Francke-Verlag; S. 75 – 103
  • Brecht das Schweigen, Ein Handbuch zur Behandlung und Seelsorge von Opfern und Tätern bei sexuellem Missbrauch; Mitchel Whitman, Aussaat-Verlag; S. 74 – 77
  • Gottesverwechslung Hanne Baar (Hrsg.) Jana Herzberg – Grafi ken; Hymnus-Verlag

6. Anlagen

Finde weitere Themen, die zum Artikel passen

Missbrauch