Erstgeborener oder Nesthäkchen

Wie beeinflusst die Geschwisterkonstellation die Entwicklung von Kindern und wieso hat das Bedeutung für Kinder- und Jugendarbeit?
Erstgeborener oder Nesthäkchen

Ein ganz normaler Dienstag im Juni, meine ältere Schwester und ich machen uns auf den Heimweg von der Schule. Unser Vater empfängt uns mit einem verschmitzten Lächeln. Mama ist im Krankenhaus!
Es ist soweit, das lang ersehnte Geschwisterchen ist fast da! Ich kann mich noch heute gut an jenen Sommertag erinnern, weil er meine Welt verändert hat. Nachdem ich jahrelang Zweitgeborene und Nesthäkchen der Familie war, wurde ich plötzlich große Schwester. Die Karten wurden neu gemischt.
Geschwisterkonstellation. Es klingt nach Klischee. Der Älteste = der Verantwortungsbewusste. Die Jüngste = die verwöhnte Prinzessin.

Doch nichts beeinflusst unsere Entwicklung nachhaltiger als die Beziehungen innerhalb der Familie.

Der Erste – der die Verantwortung trägt

Erstgeborene stehen vor Vorteilen wie Problemen gleichermaßen. Die Eltern haben keine Erfahrung in der Kindererziehung. Erstgeborene erhalten die ungeteilte Aufmerksamkeit, jeder Entwicklungsfortschritt wird bestaunt und für die Ewigkeit festgehalten. Tritt jedoch das zweite Kind in den Kreis der Familie ein, sind sie plötzlich „die Großen“, bekommen Aufgaben übertragen, sollen Vorbild sein und spüren den zunehmenden Druck, der mit jedem weiteren Geschwisterchen wächst. Sie werden zu den Machern der Familie. Erstgeborene werden schneller erwachsen, sehen das Leben als ernsthafte Sache an und gehen mit großer Gewissenhaftigkeit ihren Aufgaben nach.

Was bedeutet das für die Kinder- und Jugendarbeit? Ich möchte das am Beispiel von Jonas* und Anton deutlich machen.

Jonas (10) hat zwei jüngere Schwestern und kommt regelmäßig in unseren Kindertreff. Wenn er an Wettkämpfen im Kidsclub teilnimmt, ist er sehr ehrgeizig und kann schlecht verlieren. Es kommt vor, dass Jonas in Tränen ausbricht, weil er eine Aufgabe nicht lösen konnte. Was auf den ersten Blick befremdlich erscheint, ist in Hinblick auf den Hang zum Perfektionismus bei einem Erstgeborenen mehr als verständlich.

Wie kann ich gut mit so einer Situation umgehen?
Hilfreich ist es, dem Erstgeborenen sein Verhalten zu spiegeln. Vielleicht kann das sogar ein Mitarbeiter tun, der selbst Erstgeborener ist: „Ja, du ärgerst dich, dass du die Aufgabe nicht lösen konntest und du darfst traurig darüber sein. Ich verstehe das, mir geht es manchmal auch so. Aber ich möchte, dass du weißt: Du musst nicht perfekt sein! So wie du bist, bist du gut. Setze dich selber nicht so sehr unter Druck.“

Anton (16) ist der Älteste von fünf Brüdern. Selten tut er etwas unüberlegtes, wirkt stets abgeklärt und verantwortungsbewusst. Wenn die Mutter krank ist, übernimmt er wie selbstverständlich ihre Aufgaben. Er ist hilfsbereit und zuverlässig. Das verleitet dazu, bei Aktionen besonders auf seine Mithilfe zu setzen.
Doch ein Erstgeborener wird oft zuhause bereits mit Verantwortlichkeiten überhäuft und kann schlecht Nein sagen. Deshalb sollten wir ihn lieber entlasten und jemand anderes herausfordern, Verantwortung zu übernehmen.

Der Zweite – der in der Klemme sitzt

Zu den sogenannten „Mittelkindern“ zählen nicht nur Zweitgeborene, sondern auch das dritte Kind
von vier, das vierte von fünf usw. In den meisten Fällen haben Mittelkinder einen ziemlich sicheren Platz in der Familie. Sie sind ausgeglichener als die energiegeladenen Erstgeborenen und munterer als ihre ernsthaften großen Geschwister. Mittelkinder stehen im Konkurrenzkampf. Sie lernen früh, sich den vielfältigen Herausforderungen in der Familie anzupassen. Lohnt es sich, mit dem älteren Bruder zu konkurrieren oder gehe ich bewusst einen anderen Weg? Manipuliere ich unbemerkt mein Umfeld oder kontrolliere ich die anderen? Mittelkinder werden zu Vermittlern und schließen Kompromisse, denn sie lernen früh die Aufmerksamkeit der Eltern mit den anderen Geschwistern zu teilen. Sie stecken irgendwo dazwischen, sind „mittendrin“, aber eine entscheidende Rolle kommt ihnen nicht zu. Sie sind nicht der gewissenhafte Erstgeborene und auch nicht das süße Nesthäkchen.
Typischerweise bauen sich Mittelkinder einen großen Freundeskreis auf, um sich außerhalb der Familie Belohnung und Anerkennung zu verschaffen.

Als ich nach einem Beispiel für diese Geschwisterposition suchte, musste ich eine Weile überlegen. Es scheint, als würden Mittelkinder tatsächlich auch in der Kinder- und Jugendarbeit nicht so stark
auffallen. Dann kam ich auf Markus, einen quirligen Neunjährigen mit einem älteren und einem jüngeren Bruder. Sein älterer Bruder hat schon ein Handy, denn „er ist ja schon groß“. Sein jüngerer Bru-
der hat aber auch ein Handy, denn „er ist der kleine Liebling“. Markus jedoch geht unter. Er hat sich zurückgezogen, sucht außerhalb der Familie nach Anerkennung. Hinter der fröhlichen Fassade steckt ein empfindsamer Kern. Es fällt ihm schwer, seine wirklichen Gefühle und Beweggründe zu äußern.
Mittelkindern dürfen wir getrost ein bisschen mehr Aufmerksamkeit schenken, jedoch nur wenn sie diese nicht manipulativ einfordern. Es ist hilfreich, ihnen klarzumachen, dass sie gut sind und sich nicht mit anderen vergleichen müssen. Und Mittelkinder schätzen es besonders, wenn man sie nicht übergeht, sondern gezielt nach ihrer Meinung fragt.

Der Letzte – der ernst genommen werden will

Nesthäkchen. Für gewöhnlich kleine Charmeure, die es verstehen, andere um den Finger zu wickeln.

Susanna (5), Jüngste von drei Geschwistern ist so ein Nesthäkchen. Bildhübsch und sehr charmant. Sie schafft es spielend, ihre Mitmenschen für sich zu begeistern. Doch oft bleibt es dabei. Sie ist süß. Dass Susanna voller Stolz ihren Namen schreibt, wird nicht wahrgenommen.
Nesthäkchen wollen ernst genommen werden. Jüngste Kinder stehen im Schatten ihrer großen Geschwister. Die erste Zahnlücke, das erste selbst gelesene Buch, der erste Liebeskummer – das alles gab es schon mal. Ihre Fähigkeiten, ihre Anliegen fallen weniger ins Gewicht und das wissen sie. Daraus entsteht der Wunsch, es allen zu zeigen. Auffallen um jeden Preis.

Tanja (15) lebt als letztes Kind noch zuhause, ihre älteren Geschwister sind bereits ausgezogen. Sie möchte im Mittelpunkt stehen, egal worum es geht. Ständig erzählt sie von ihren hervorragenden Schulnoten. Wenn es irgendwo etwas zu gewinnen gibt, ist sie ganz vorn mit dabei. Sie genießt die Aufmerksamkeit der älteren Jungs und versteht es, sich ins Zentrum zu rücken.

Doch was steckt dahinter?
Nesthäkchen werden von der Sehnsucht nach Lob und Anerkennung getrieben. Sie werden zwar oft verwöhnt und weitaus weniger konsequent erzogen als Erstgeborene, aber meist werden sie auch weniger ernst genommen. Es ist ein Zwiespalt, mit dem sie leben.
Tanja drückt sich gern um Aufgaben, die sie sich nicht zutraut. Zuhause hat sie kaum Pflichten, ihre Mutter macht ihr das Leben leicht. Hilfe erbetteln, das kann Tanja gut.
Für eine gesunde Persönlichkeitsentwicklung ist es vonnöten, dass auch Nesthäkchen lernen, Verantwortung zu übernehmen. Ihr Wunsch nach Anerkennung kann dabei helfen: Wir können sie zu neuen Aufgaben herausfordern und ihnen dafür auch das verdiente Lob zukommen lassen, wenn sie die Herausforderung annehmen.

Der Einzelne –der sich nicht gut genug fühlt

In ihrer Entwicklung haben Einzelkinder hauptsächlich mit Erwachsenen zu tun. Dadurch wirken sie auf Gleichaltrige oft verwöhnt, egoistisch und frühreif. Aber sie werden in ihrem Umfeld auch mit dem Maßstab der Erwachsenen gemessen. Dem können sie nicht entsprechen, sie fühlen sich minderwertig.
Einzelkinder sind Erstgeborener und Nesthäkchen in einem. Sie sind gewissenhaft bei dem, was sie tun und scheuen gleichzeitig vor zu viel Verantwortung.
Die widersprüchlichen Charakterzüge von Erst- und Letztgeborenem prägen ein Einzelkind.

Hannes (16) ist der geborene Entertainer und Schauspieler, der alle zum Lachen bringt. Zugleich ist er unsicher und drückt sich davor, Aufgaben zu übernehmen. Für die Weihnachtsfeier wollte Hannes im Theaterstück mitspielen. Er kam motiviert zu den Proben, lernte den Text auswendig – und tauchte am Tag der Aufführung nicht auf. Seine Mutter wolle
mit ihm wegfahren, sagte er. Es fiel mir schwer, das zu glauben, denn ich ahnte was dahintersteckte: Er wollte es perfekt machen, doch aus Angst zu versagen, schob er die Verantwortung von sich. Ich rief ihn an und sagte: „Ich weiß, dass du es kannst und dass du den Auftritt gut meistern wirst! Und wir brauchen dich. Du hast zugesagt, ohne dich steht das Programm auf der Kippe.“ Er kam und lieferte eine tolle Darstellung ab.

Die Geschwisterkonstellation prägt die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen. Doch gilt: Jeder ist einzigartig. Nicht jeder Erstgeborene strebt nach Erfolg, nicht jedes Nesthäkchen scheut die Verantwortung. Wenn wir uns aber darauf einlassen, Kinder und Jugendliche auch durch die Brille der Geschwisterkonstellation zu sehen, wird sich manches Problem in eine Möglichkeit verwandeln.