Systemtreu oder Bibeltreu

Wir Menschen benötigen Systeme in denen wir "systematisch" Denken. Warum wir sie benötigen und welche Gefahren dabei entstehen, erklärt Karl-Heinz Vanheiden sehr eindrucksvoll in diesem Artikel.
Systemtreu oder Bibeltreu

Dieser Artikel ist ein Auszug aus dem Buch „Systemtreu oder Bibeltreu“.¹

Unser menschlicher Verstand ist auf systematisches Denken hin angelegt. Systematisches Denken ist geordnetes Denken. Wenn wir die Dinge dieser Welt nicht in bestimmte Systeme einordnen können, verstehen wir sie nicht. Genauso ist es mit der Bibel. Die Aussagen einzelner Bibelstellen ordnen wir systematisch zusammen. Daraus gewinnen wir biblische Lehren: die Lehre über Gott, die Lehre vom Menschen, die Lehre über Erlösung, die Lehre von den letzten Dingen, die Lehre von den Haushaltungen, die Lehre von der Gemeinde usw.Unser menschlicher Verstand ist auf systematisches Denken hin angelegt

Alle diese Lehren könnte man wieder in ein größeres System einordnen. Daraus entstehen dann die theologischen Lehren verschiedener kirchlicher Gruppierungen, also eine lutherische oder protestantische Theologie, eine baptistische Theologie oder eine Brüderlehre. Solch ein System besteht in der Kombination verschiedener biblischer Lehren zu einem geschlossenen Ganzen. Nun haben alle diese Systeme ein Problem: Es sind menschliche Konstruktionen. Es handelt sich dabei um eine bestimmte Art von Denkvereinbarungen, die Antworten geben oder zumindest versprechen. In der Wissenschaft nennt man solch eine Denkvereinbarung ein Paradigma.

Dieser Denkvereinbarungen sind sich die allermeisten Geschwister überhaupt nicht bewusst. Deshalb behaupten viele Brüder mit großer Überzeugung, selbstverständlich die biblische Lehre zu vertreten. „Na ja, die anderen haben auch etwas davon, aber die eigentliche biblische Lehre ist uns geschenkt worden.“ Ich finde dieses auf einer falschen Sicherheit beruhende Bewusstsein verhängnisvoll: Man glaubt, biblisch zu denken, merkt aber nicht, dass man sich in Wirklichkeit in einem geschlossenen System befindet. Man glaubt, biblisch zu denken, merkt aber nicht, dass man sich in Wirklichkeit in einem geschlossenen System befindet.

Von solch einem System geht eine ziemliche Faszination aus, das ist offensichtlich. Das System beantwortet im Prinzip alle Fragen und es ist bei Weitem nicht so schwer zu verstehen, wie die Bibel selbst. Aber es verkürzt die Schrift und nimmt das Denken gefangen. Nur ist diese Gefangenschaft nicht der Gehorsam des Christus, sondern es ist die Gefangenschaft in den Gittern des Systems.

Ich will nun versuchen, einige charakteristische Merkmale eines Denkens im geschlossenen System dem biblischen Denken gegenüberzustellen. Dabei soll niemand ein stures Systemdenken unterstellt werden, sondern ich will bewusst machen, wie Systemdenken generell funktioniert. Ich möchte gern einsichtig machen, wie diese Geschwister es tun und warum sie Angst haben, wenn jemand bestimmte Dinge anfragt. Wir müssen versuchen zu verstehen, warum bei manchen in solch einem Fall alles zusammenzubrechen scheint.

Konflikte zwischen Systemdenken und biblischem Denken sind unvermeidlich, einmal weil es keine vollkommenen Systeme gibt und zum anderen, weil die Bibel kein Lehrbuch für systematische Theologie ist. Wie wir nun in Konflikten entscheiden, hängt ganz davon ab, wie dicht die Gitterstäbe unseres Systems für uns sind.

Denken im System Biblisches Denken
1. kennt die Ergebnisse kennt die Grundlage
2. Antworten sind im System integriert Antworten sind offen
3. Auslegung ist vorgegeben Auslegung wird geprüft
4. kann mit Behauptungen arbeiten akzeptiert nur Schriftbeweise
5. hinterfragt andere Auslegungen hinterfragt das System
6. versucht, Schriftaussagen in das System zu integrieren versucht zu erkennen, was die Schrift im Kontext sagt
7. liest fast nur die Schriften der Systemväter liest auch andere bibeltreue Auslegungen
8. verdächtigt alle, die nicht zu den gleichen Ergebnissen kommen ist bereit, andere Auslegungen anhand der Schrift zu prüfen
9. Bibelstudium verfeinert sein System Bibelstudium verfeinert seine Schriftkenntnis
10. meint, bibeltreu zu sein, aber verteidigt das System stellt sich zur Schrift und ihren klaren Aussagen
11. wagt kaum eigene Aussagen – sie könnten das System verletzen kann mit Ergebnissen seines Studiums Schwierigkeiten bekommen
12. denkt über bestimmte Dinge nicht mehr nach muss überlieferte Lehren neu durchdenken
13. Aussagen, die nicht ins System passen, werden manchmal weggelassen stellt sich auch „unpassenden“ Aussagen
14. verkürzt unwillkürlich biblische Wahrheiten versucht, biblische Wahrheiten zu erfassen
15. Kompromisse kaum denkbar Kompromisse möglich

Schauen wir uns die Tabelle an: Wir stellen in 15 Punkten das Denken im (geschlossenen) System dem biblischen Denken gegenüber.

  1. Wer im System denkt, kennt die Ergebnisse des Systems. Er weiß, wann die Entrückung stattfinden wird und wie man das Gleichnis vom Schatz im Acker auslegen muss. Das System gibt ihm eine klare Antwort darauf, denn diese Antwort wird innerhalb des System benötigt und stützt wieder einen anderen Teil des Systems.
    Wer versucht, biblisch zu denken, kennt die Grundlage der Schriftstellen, auf die man sich bei der betreffenden Lehre gründet und die Regeln, die man bei der Auslegung beachten sollte. Manchmal kommt er zu den gleichen Ergebnissen, wie das System, denn die Systeme sind schließlich auch durch Bibelstudium entstanden.
  2. Wer im System denkt, findet die Antworten auf seine Frage nach Scheidung und Wiederheirat, wenn er die Lehrschriften der Väter studiert. Er findet darin auch genügend Begründungen zur Unterstützung der Antwort.
    Wer versucht, biblisch zu denken, weiß vorher noch nicht, was herauskommt. Es kann sogar sein, dass er andere Antworten gewinnt, als das System vorgibt.
  3. Wer im System denkt, wird angeleitet, wie er das Gleichnis vom Sauerteig und dem Senfkorn auszulegen habe und was genau der Sauerteig und das Senfkorn bedeuten und welche Rolle die Vögel dabei spielen.
    Wer versucht, biblisch zu denken, muss diese Auslegung prüfen und fragen, wodurch sie gerechtfertigt sind. Er darf nicht einfach eine bestimmte Auslegung als gegeben akzeptieren, wenn dafür keine Beweise vorliegen.
  4. Wer im System denkt, arbeitet demzufolge oft mit Behauptungen. Er sagt etwa: dies ist ein Bild für…, obwohl das durch nichts bewiesen werden kann. Er sagt: Der Hebräerbrief ist ein Brief mit irdischen Verheißungen; das Matthäus-Evangelium redet nicht von uns, aber zu uns. Aber er kann gewöhnlich diese Aussagen nicht beweisen.
    Wer versucht, biblisch zu denken, akzeptiert nur klare Schriftbeweise und fragt bei seinem Gegenüber oft vergeblich danach.
  5. Wer im System denkt, dem sind andere Auslegungen nicht geheuer. Er wird unsicher, wenn er andere Erklärungen für das gleiche Bibelwort hört, als er sie aus seiner Jugend kannte.
    Wer versucht, biblisch zu denken, hinterfragt das System, das nur bestimmte Auslegungen zulässt, ohne das aus der Schrift selbst zu begründen.
  6. Wer im System denkt, versucht z.B. Aussagen über einen zornigen Gott, der Unglücke in der Stadt bewirkt, mit seinem System vom liebenden Gott, der immer bewahrt, zu integrieren.
    Wer versucht, biblisch zu denken, versucht zu erkennen, was die Schrift im Zusammenhang mit Amos 3,6 meint und überlegt, ob er das wirklich auf sich übertragen kann.
  7. Wer im System denkt, liest fast nur die Schriften der Systemväter. Ich kenne einige, die das tun und sogar stolz darauf sind. Denn sie sind der Meinung, so die rechte Lehre zu bewahren. Eine Bibelschule oder ähnliche – ihrer Meinung nach „ungeistliche“ – Einrichtungen könnten ihrer Meinung nach nur Schaden anrichten. In ihren eigenen „Unterweisungen“ versuchen sie hingegen ihre Hörer sorgfältig auf das System einzuschwören.
    Wer versucht, biblisch zu denken, liest auch andere bibeltreue Auslegungen und weiß, dass die Auslegungen der Väter eben auch nur Auslegungen sind, die irren können. Deshalb muss er auch sie an der Schrift prüfen.
  8. Wer im System denkt, verdächtigt im Extremfall alle, die nicht zu den gleichen Ergebnissen kommen, wie sie das System vorgibt. Als ich letztens über die Rolle der Frau sprechen sollte, hatte ich im ersten Teil große Zustimmung, weil ich biblisch beweisen konnte, dass die Meinung der Väter über 1Kor 14 durchaus zu belegen ist. Als ich dann aber zeigte, dass einige unserer Aussagen auf rein menschlichen Annahmen beruhen, die man auch durch andere ersetzen kann, wurden manche Brüder unruhig. Es kamen dann etliche Vorschläge, die alle darauf hinausliefen, eine ganz bestimmte menschliche Annahme scheinbar biblisch zu belegen.
    Wer versucht, biblisch zu denken, ist bereit, andere Auslegungen anhand der Schrift zu prüfen und die Konsequenzen zu ziehen.
  9. Wer im System denkt, studiert natürlich auch die Bibel, aber er liest die Bibel mit der Brille des Systems und kommt überhaupt nicht auf den Gedanken, es könnte anders sein. Jedes Detail, das er entdeckt, baut er ins System ein.
    Wer versucht, biblisch zu denken, vertieft seine Schriftkenntnis und entdeckt zu seiner Überraschung manches, was er nicht erwartet hätte und was auch nicht in das vorgegebene System passt.
  10. Wer im System denkt, ist davon überzeugt, ganz auf dem Boden der Schrift zu stehen, aber in Wirklichkeit verteidigt er nur das System. Natürlich stimmt vieles in seinem System mit der Bibel überein, ich glaube sogar, wenn ich an die Brüderlehre denke, das meiste.
    Trotzdem muss ich mich hüten, dem System zu verfallen und es zu stützen. Ich muss mich immer zu den klaren Aussagen der Schrift stellen.
  11. Wer im System denkt, von dem hört man kaum jemals eigene Aussagen, geschweige denn eine neue Sicht, denn er fürchtet, sie könnten nicht systemkonform sein. Er hat immer alles an den Schriften der Väter geprüft.
    Wer versucht, biblisch zu denken, kann mit Ergebnissen seines Studiums durchaus Schwierigkeiten bekommen, vor allem, wenn er mit systemkonformen Geschwistern zusammenstößt. Er wird schnell verdächtigt, unbiblische Lehren zu verbreiten. Ja, manche sind schnell bereit, den anderen als liberal zu beschimpfen, wenn er mit seinen Ergebnissen nicht ins System passt.
  12. Wer im System denkt, denkt z.B. über Bekehrung und Heilsgewissheit nicht mehr nach, weil sie ihm als selbstverständliche biblische Lehren erscheinen, die schon Jahrzehnte festgesetzt haben. Wenn er dann gefragt wird, was die Schrift tatsächlich dazu sagt, wird es gewöhnlich sehr dünn und meist sogar falsch.
    Wer versucht, biblisch zu denken, muss von der Schrift her neu überlegen, was Gott wirklich will, wenn er von Bekehrung spricht oder von Buße und ob es nicht auch eine falsche Heilssicherheit geben könnte.
  13. Wer im System denkt, kennt manchmal auch Bibelstellen, die nicht ins System passen. (Mir ist das einmal so bei 2Kor 3,6 gegangen, als ich beweisen wollte, dass die Gemeinde nicht zum neuen Bund gehört…)
    Wer versucht, biblisch zu denken, stellt sich auch „unpassenden“ Aussagen und versucht nicht, sie mit Gewalt ins System hineinzubekommen. Denn dabei wird fast immer das System vergewaltigt.
  14. Wer im System denkt, verkürzt unwillkürlich biblische Wahrheit, denn jedes System tut das. Das sollten wir nicht vergessen, denn wir alle haben ja solche Denksysteme und brauchen sie auch.
    Wer versucht, biblisch zu denken, versucht die biblische Wahrheit zu erfassen, wie sie ist, auch in ihren scheinbaren Widersprüchen. Er hütet sich davor, die Schrift zu verändern.
  15. Wer im System denkt, für den sind Kompromisse kaum möglich. Extreme Vertreter des Systemdenkens sind typische Sektierer. Außerhalb ihres System gibt es für sie nichts mehr.
    Wer versucht, biblisch zu denken, weiß, wie schwer manche Schriftstellen zu erklären und zu vereinbaren sind. Er weiß, dass er manchmal auf Hilfskonstruktionen angewiesen ist. Das macht ihn vorsichtig. Aber deshalb sind für ihn auch andere Hilfskonstruktionen als die eigenen denkbar.

Mit dem vorgestellten Schema will ich niemand in eine Schublade stecken. Unser Denken ist weit komplizierter und lässt sicht nicht einfach in die Spalte einer Tabelle einordnen. Ich wollte aber die Gefahren des Denkens in einem geschlossenen System aufzeigen und erklären, warum Menschen, die stark im System denken, kaum jemals kompromissbereit sein können. Diese Menschen würden damit ihr System verraten und das ist manchen von ihnen wichtiger als die Schrift selbst. Allerdings merken viele auch nicht, dass sie ihr System mit der Schrift gleichsetzen.

Wir wissen auch, dass niemand von uns ohne Systeme sein kann, weil unser Denken halt nur systematisch funktioniert. Aber wir sollten Systemen – vor allem „geschlossenen Systemen“ – gegenüber gesundes Misstrauen haben.

¹ Eber, Andreas/Vanheiden, Karl-Heinz (2003): Systemtreu oder Bibeltreu. Die Auswirkung überbetonter Auslegungsprinzipien. Muldenhammer: jOTA.