Sexuelle Gewalt gegen Kinder

Gewalt gegen Kinder hat verschiedene Facetten. Sexuelle Gewalt ist eine Form, die Kindern seelisches und körperliches Leid in besonderem Maße zufügt. Dieser Artikel gibt einen Überblick über das Thema und soll verdeutlichen, wie unterschiedlich Gewalt gegen Kinder ausgeübt werden kann.
Sexuelle Gewalt gegen Kinder

Gewalt – die Macht des Stärkeren

Gewalt gegen Kinder hat verschiedene Facetten. Sexuelle Gewalt ist eine Form, die Kindern seelisches und körperliches Leid in besonderem Maße zufügt. Oftmals vermischen sich unterschiedliche Formen von Misshandlungen. Ein kurzer Überblick dazu soll verdeutlichen, wie unterschiedlich Gewalt gegen Kinder ausgeübt werden kann. Im Folgenden ist um der besseren Lesbarkeit willen vom „Täter“ die Rede; allerdings für 10-25 % der Delikte sind „Täterinnen“ verantwortlich.

Seelische Misshandlung geht vielfach mit sexueller Gewalt einher.

Sexuelle Misshandlungen treffen das Intimste und Persönlichste eines Menschen.Erleidet ein Mensch sexuelle Misshandlungen, so erfährt er eine folgenschwere Gewaltanwendung, die sein Intimstes, Persönlichstes trifft. Diese Art von seelischen Verletzungen manifestiert sich sehr häufig in einem Trauma, das unabschätzbare Folgen für das weitere Leben hat. Sexuelle Gewalt untergräbt die Würde des Menschen, missachtet seinen Selbstwert und überschreitet alle persönlichen Grenzen. Sie wertet den Menschen ab und reduziert ihn auf ein beliebiges Objekt zur Machtausübung und zum Lustgewinn.

Die Ursachen, der Verlauf und die Folgen der Misshandlungsformen sehen ganz unterschiedlich aus, ihre Grenzen sind fließend. In allen Ausprägungen handelt es sich um destruktive und vernichtende Handlungen am Körper und/oder an der Psyche des anderen. Erwachsene missbrauchen ihre Macht und Autorität, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Sie nehmen keine Rücksicht auf den Willen und die Grenzen eines Kindes. „Dabei ist der Mangel an Liebe und Anerkennung für die Kinder teilweise schwerer zu ertragen, als die körperlichen Spuren von Misshandlungen“.

Wie äußert sich sexuelle Gewalt?

Sexuelle Gewalt ist leider nichts Seltenes und kommt – wie auch andere Gewaltformen – häufig im familiären Umkreis vor. Genaue Opferzahlen sind schwer zu erfassen. Schätzungen gehen heute davon aus, dass jedes vierte bis fünfte Mädchen und jeder zwölfte Junge sexuelle Gewalterfahrungen in seinem Leben macht. Das heißt, es kann in jeder Gemeinde, Kinder- oder Jugendgruppe Betroffene geben.

Die aktuellen Diskussionen um sexuelle Gewalt haben bei vielen Eltern und anderen Bezugspersonen von Kindern erhebliche Verunsicherungen ausgelöst und zu Fragen geführt wie:

Darf ich denn noch mit meiner pubertierenden Tochter schmusen?
Kann ich mit meinem zehnjährigen Sohn das Badezimmer zusammen benutzen?

Darin liegt im Grunde kein Problem, denn Kinder sind in jedem Alter auf die Liebe und Zuwendung der Erwachsenen angewiesen und würden einen abrupten körperlichen oder emotionalen Rückzug wahrscheinlich nicht verstehen. Grundsätzlich beginnt sexuelle Gewalt gegenüber einem Kind dann, wenn die Befriedigung der Bedürfnisse der kognitiv reiferen Person im Mittelpunkt steht. Ein Beispiel soll diesen Sachverhalt verdeutlichen: Es ist normal und entspricht elterlicher Zuwendung, wenn ein Vater mit seiner fünfjährigen Tochter zusammen in der Badewanne badet. Will er das immer noch tun, auch wenn sie mit elf Jahren lieber die Tür schließt und alleine badet, so überschreitet er die persönliche Grenze seiner Tochter. Man kann hier durchaus von einem sexuellen Übergriff sprechen. Entsprechend wäre folgende Situation zu bewerten: Die Mutter will plötzlich mit ihrem elfjährigen Sohn baden, obwohl sie das vorher nie tat.

Man spricht dann von sexueller Gewalt, wenn eine Person ihre Machtposition, das heißt, die Unwissenheit, das Vertrauen und die Abhängigkeit eines Mädchens oder Jungen für eigene Bedürfnisse nach Macht und sexueller Befriedigung benutzt.
  • Ein Mädchen oder Junge wird zur sexuellen Erregung des Täters heimlich von ihm angefasst, oder er lässt sich von dem Kind berühren.
  • Po oder Busen werden durch verletzende Bemerkungen oder Blicke herabgewürdigt.
  • Ein erregtes Glied wird wie zufällig dem Kind gezeigt, oder das Kind wird durch das Schlüsselloch beim Ausziehen beobachtet.
  • Der Täter zwingt ein Kind, ihn nackt zu betrachten oder ihm bei sexuellen Handlungen zuzusehen.
  • Kinder werden zu pornographischen Zwecken benutzt oder es wird ihnen entsprechendes Material vorgeführt.
  • Der Täter reibt seinen Penis an Körperteilen des Kindes.
  • Mädchen oder Jungen werden zu oralem, analem oder vaginalem Geschlechtsverkehr überredet oder gezwungen.

Die Tat – gut durchdacht und geplant

Sexuelle Gewalt ist ein Prozess und kann in unterschiedliche Phasen eingeteilt werden. Die dazugehörigen Handlungen des Täters sind nie spontan, sondern werden lange vorher geplant.

In der Phase der Vorbereitung sucht sich der Täter das Opfer, z. B. aus dem Familienverband oder dem sozialen Umfeld wie Spielplatz oder Schulhof. Er besticht es mit Geld, Spielzeug oder Drogen wie Alkohol, um sein Vertrauen zu erlangen und desensibilisiert es gegenüber Sexualität und sexuellen Handlungen durch Erzählen von schmutzigen Witzen oder Zeigen von Pornozeitschriften.
Die Phase des sexuellen Kontaktes zeigt eine breite Palette von Möglichkeiten, wie sich sexuelle Gewalt äußert. Beispiele wurden oben bereits angeführt. Die Altersspanne der misshandelten Kinder reicht vom Säuglingsalter bis in die Teenagerjahre hinein.

Das Geschehen kreist um die Geheimhaltung. Sie ist die zentrale Phase im Prozess der sexuellen Gewalt. Für den Täter ist es besonders wichtig, das Kind zum Schweigen anzuhalten. Durch geschickt gesponnene Intrigen trennt er es von seinen Vertrauenspersonen und isoliert es. Dann wird es durch Gewalt und verbale wie nonverbale Drohungen eingeschüchtert und ihm ein Schweigegebot aufgezwungen. Die meisten Kinder schweigen aus Angst, dass ihnen nicht geglaubt wird und aufgrund ihrer Schuld- und Schamgefühle. Oft trauen sich die Opfer erst nach Jahren oder gar Jahrzehnten, über ihre Erlebnisse zu sprechen.

Die Phase der Unterdrückung setzt dann ein, wenn der Täter vermutet, dass seine sexuellen Handlungen aufgedeckt werden könnten. Er entwickelt verschiedene unbewusste Mechanismen, seine Handlungen zu verleugnen. Durch erneute und verschärfte Drohungen und Gewaltanwendungen schüchtert er das Opfer verstärkt ein. Die Folge ist, dass das Kind die sexuellen Handlungen auf Befragen nicht zugibt oder erneut leugnet. Weitere sexuelle Übergriffe durch den Täter wären die Konsequenz.

Für die Konfrontation des Täters mit der Tat und das weitere Handeln durch Eingreifende ist es von besonderer Bedeutung, ruhig, bedacht und sorgsam zu arbeiten. Selten bleibt es bei einmaligen Übergriffen. Die Handlungen ziehen sich oftmals über Jahre hinweg und steigern ihre Intensität. Sie entwickeln für den Täter Suchtcharakter, von dem er ohne Hilfe von außen nicht mehr loskommt. Die Art und Intensität der Folgesymptome beim Opfer sind um so stärker ausgeprägt, je massiver die Übergriffe stattfanden und je öfter die Vertrauens- und Beziehungsbasis zwischen Opfer und Täter missbraucht wurden.

Wer sind die Täter oder Täterinnen?

In der Regel kommen sie aus dem Lebensumfeld des Kindes, sie sind angesehen und stammen aus allen sozialen Schichten; sie sind Väter, Mütter, Onkel, Cousins, Großväter, Tanten, Trainer, Pädagogen, Ärzte, Nachbarn, Therapeuten, Pfarrer, Babysitter u. a.

Einige Fakten:

  • Zu einem Drittel kommen die Täter aus der eigenen Familie wie (Stief)Vater, Mutter, Geschwister. Der größere Teil kommt aus dem weiteren sozialen Umfeld des Kindes.
  • Täter können im Laufe ihres Lebens mehrere Opfer haben, oftmals unterhalten sie verschiedene sexuelle Beziehungen gleichzeitig.
  • Zwei Drittel der Täter misshandeln nicht nur in der Familie, sondern haben auch Opfer im sozialen Nahraum.
  • Die Täter sind den Opfern meist vor dem sexuellen Übergriff bekannt. Ca. ein Drittel aller Delikte wird durch kindliche oder jugendliche Täter vorgenommen.
  • Auch Täterinnen misshandeln zwei oder mehrere Opfer im Laufe ihres Lebens.
  • Täterinnen kommen aus allen Altersklassen.
  • Frauen suchen sich vorwiegend Opfer, die ihnen am nächsten stehen und misshandeln sie über einen längeren Zeitraum.

Woran kann man sexuelle Gewalt erkennen?

Fakt ist, dass es keine eindeutigen Anzeichen für sexuelle Gewalt gibt. Die Opfer weisen unterschiedliche und oftmals konträre Verhaltensweisen auf. Jedes Kind geht einen anderen Weg, um mit diesem tiefen Vertrauensbruch in seiner Seele fertig zu werden. Unbegründete Verdächtigungen können weitreichende Folgen nicht nur für das Opfer, sondern auch für den angeblichen Täter haben.

Wichtig ist, Verletzungen, Krankheiten und Verhaltensveränderungen des Kindes kritisch zu betrachten und bei Verdachtsmomenten ggf. Hilfen durch Dritte in Anspruch zu nehmen.

Mögliche körperliche Anzeichen wären:

  • Verletzungen an den Geschlechtsorganen oder im Analbereich
  • Bissringe oder Blutergüsse im Genitalbereich, an den sekundären Geschlechtsmerkmalen und den „erogenen“ Zonen
  • Striemen und blaue Flecken an der Innenseite der Oberschenkel
  • Blutige Unterwäsche
  • Geschlechtskrankheiten, Aids, Pilzinfektionen
  • Schwangerschaften von Mädchen / jungen Frauen
  • Wiederholte Entzündungen im Genitalbereich

Mögliche Verhaltensauffälligkeiten:

  • Unangemessenes sexualisiertes Auftreten
  • Meiden von (körperlichem) Kontakt
  • Distanzlose Nähe als Folge von Grenzüberschreitungen
  • Unkontrollierte Stimmungsschwankungen und Wutausbrüche
  • Aggressivität
  • Reaktionen von Allmachtsgefühlen, Härte, Abweisung bei Jungen
  • Internalisieren (Verinnerlichung) von Wut und Ängsten durch angepasstes oder autoaggressives Verhalten bei Mädchen
  • Selbstmordgedanken, Drogen- und Alkoholkonsum
  • Extreme Leistungsorientierung
  • Regressives Verhalten
  • Vernachlässigen der körperlichen Hygiene
  • Zwanghaftes Waschen oder Zähne putzen
  • Streunen, weglaufen

Psychosomatische Folgen:

  • Schlaf- und Sprachstörungen
  • Partielle Lähmungen in Armen und Beinen
  • Ekzeme, Allergien
  • Bauchschmerzen, Unterleibsschmerzen
  • Einnässen
  • Ess-Störungen

Wie kann ich Kinder gegen sexuelle Übergriffe stärken?

Täter suchen sich ihre Opfer gezielt aus. Sie haben die Fähigkeit, verletzliche Kinder ausfindig zu machen, die Defizite in Bezug auf Sicherheit, Zuwendung, Anerkennung, Liebe und Wärme haben. Besonders gefährdet sind Kinder,

  • die das Thema Sexualität als Tabu im Elternhaus und in der Gemeinde erleben. Sie können sich kaum gegen sexuelle Übergriffe abgrenzen und das Geschehen nicht benennen;
  • die unter rigiden Erziehungsnormen aufwachsen und deren Widerspruch von Erwachsenen nicht akzeptiert wird;
  • die schon Gewalterfahrungen und sexuelle Übergriffe erlebt und keine Unterstützung in der Bewältigung bekommen haben;
  • die emotional vernachlässigt sind und eine starke Sehnsucht nach Aufmerksamkeit und Liebe haben;
  • die einen Mangel an positiven männlichen Bezugspersonen haben;
  • die sehr jung sind und den Täter noch nicht verraten können.

Vorbeugend zu handeln fängt schon im alltäglichen Erziehungsgeschehen an. Wichtig ist, dass die eigene Haltung im Blick auf Sexualität und Erziehungsstil reflektiert wird. Oftmals fällt es Erwachsenen schwer, über Sexualität zu reden. Manchmal sind eigene Gewalterfahrungen die Ursache. Dann ist es wichtig, sich Hilfe zu holen. Aufgearbeitete Misshandlungserlebnisse sind ein guter Schutz für das eigene Kind. Weiterhin sollte ihm vermittelt werden:

  • Dein Körper gehört dir!
  • Du darfst bestimmen, wer dich berührt und wer nicht.
  • Es gibt gute und schlechte Gefühle. Deine Gefühle sind einzigartig. Du kannst ihnen vertrauen. Zeig, wie es dir geht.
  • Berührungen sind in Ordnung. Jeder braucht liebevolle und angenehme Berührungen, doch du entscheidest, was du möchtest. Keiner darf dich schlagen, schubsen oder treten.
  • Manche Berührungen verursachen ein komisches Gefühl, und du kannst nicht sagen warum. Du darfst dich wehren und nein sagen! Auch wenn Erwachsene dich nicht ernst nehmen.
  • Du darfst dich wehren und Geheimnisse weitererzählen, die du nicht gut findest.
Kinder, die im alltäglichen Leben lernen, ihre Gefühle ernst zu nehmen, Konflikte friedlich zu lösen, erfahren, dass sie sich bei Erwachsenen Hilfe holen können, mit Spaß und Abwechslung ihren Alltag gestalten, sind ein schlechtes Ziel für potentielle Täter.

Ich habe einen Verdacht, Was kann ich tun?

  • Glauben Sie dem Kind. Bauen Sie eine Vertrauensbasis auf und nehmen Sie es ernst.
  • Bleiben Sie ruhig. Panik macht dem Kind Angst und kann den Täter warnen und somit erschweren, den Missbrauch aufzudecken.
  • Suchen Sie sich Verbündete.
  • Überlegen Sie mit ihnen weitere Schritte. Sie können anonym Informationen von Jugendämtern und Beratungsstellen einholen oder sich an das Weiße Kreuz wenden.

Dieser Artikel ist erschienen in der Reihe „Weißes Kreuz extra“. Das Gesamtprogramm finden Sie im Internet unter www.weisses-kreuz.de.