Kinder mit AD(H)S im Leben stärken

Immer mehr Kinder und Jugendliche sind von AD(H)S betroffen, auch in unseren Gemeinden. Verständnis für dieses Syndrom zu gewinnen und Hilfen für den Umgang finden, sind wichtige Ziele für jeden Mitarbeiter.
Kinder mit AD(H)S im Leben stärken
Die Diagnose AD(H)S hört man bei Schulkindern häufig. Was muss man sich darunter vorstellen?

Joachim Kristahn:

Das Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom mit oder ohne Hyperaktivität (H) ist eine nach weltweit gebräuchlicher Diagnose feststellbare Verhaltensstörung mit einer angenommenen organischen Basis. Die betroffenen Zentren und Abläufe im Gehirn führen zu drei Leitsymptomen, um die herum sich das Syndrom individuell ausgestaltet. Im Zentrum steht die Aufmerksamkeitsstörung in Form einer Inkonsistenz, das heißt, auf eingehende Reize wird nicht adäquat eingegangen. Dazu kommt eine emotionale Impulsivität und eine Hyperaktivität (motorische Unruhe), oder im Gegenteil eine Hypoaktivität (Unteraktivierung). Die Hyperaktivität muss also nicht dazu gehören, es gibt auch die ruhige, verträumte, unauffällige Art. Obwohl diese Kinder genauso Hilfe bräuchten, fallen sie nicht auf. Aber auch sie verpassen viel, weil sie ihre Aufmerksamkeit nicht fokussieren können. AD(H)S tritt gehäuft in bestimmten Familien auf, hat also neben der psychischen und gesellschaftlichen auch eine genetische Dimension.

Spätestens im Schulalltag bekommen die betroffenen Kinder massive Probleme. Was genau geschieht da?

Joachim Kristahn:

Das Hauptproblem liegt darin, dass der Transfer des Lernstoffes vom Kurzzeitspeicher in den Langzeitspeicher nicht funktioniert. Normalerweise können wir unsere Aufmerksamkeit auf einen Lerninhalt richten und aufrecht erhalten.

Ein AD(H)S-Kind nimmt viele Reize gleichzeitig wahr. Vor dem Fenster pfeift ein Vogel, in der hinteren Reihe schwatzt eine Freundin, nebenan liest ein Junge einen Comic unter dem Tisch und auf dem Flur sind Schritte zu hören.

Mitten in diesem Reizwirrwarr steht die Lehrerin an der Tafel und versucht, eine Rechnung zu erklären. Normalerweise können Kinder ihre Aufmerksamkeit willentlich längere Zeit auf die Lehrerin fokussieren. Ein Kind mit AD(H)S nicht. Man kann sagen, sie haben eine Reizfilterschwäche bei gleichzeitiger Reizoffenheit, können schlecht zwischen wichtig und unwichtig unterscheiden. Das Kurzzeitgedächtnis ist schnell überlastet und die Reize werden hinaus gedrängt.

Müssen sich Eltern, Lehrpersonen und Gemeindemitarbeiter einfach damit abfinden, oder wie können sie ein Kind mit AD(H)S unterstützen?

Joachim Kristahn:

Manchmal ist das für die Eltern schwer zu akzeptieren, denn sie erleben ihr Kind bei gewissen Aktivitäten hochkonzentriert, zum Beispiel wenn es am Computer spielt. Tatsächlich können sie hyperfokussiertes Verhalten an den Tag legen, wenn sie ein Inhalt fasziniert. Manche Kinder sind richtige Experten für Technik, Naturthemen oder auch Handwerk und Sport. Da vergessen sie die Zeit und die Welt um sie herum. Könnte man den Lernstoff so präsentieren, dass er die Kinder bei ihren Interessen abholt, würde manches einfacher gehen. Aber oft ist der Unterricht nicht spannend genug und die Beziehung zur Lehrperson nicht motivierend. Im AD(H)S-Trainerkurs erzählte eine Teilnehmerin von einem Kind, das enorm Mühe mit dem Rechnen hatte. Aber es hatte eine Vorliebe fürs Sparen, und sie hat darum im Matheunterricht für dieses Kind die Aufgaben in Texte rund ums Sparen eingekleidet. Siehe da: Das Kind konnte rechnen. Die Kinder würden gerne ihre Spezialthemen einbringen. Eine gute Beziehung zur Lehrperson und ein positiver Klassengeist sind für AD(H)S-Betroffene besonders wichtig. Das ruft positive Gefühle hervor und deren Wirkung auf den Lernerfolg wird unterschätzt. Kann ein Lehrer Herzensbegegnungen mit dem Kind schaffen, ermöglicht ihm das Momente höchster Konzentration und bringt auch innere Ruhe. Und das gilt auch für AD(H)S-Kinder in der Jungschar oder dem Teenkreis!

Die Emotionen scheinen eine wesentliche Komponente des Lernprozesses zu sein.

Joachim Kristahn:

Ein spannender Unterrichtsstil weckt gute Gefühle. AD(H)S-Betroffene fahren viel Frustration ein. Sie sind wie Jäger und Sammler in einer Gesellschaft von Siedlern. Sie nehmen ihre Andersartigkeit selber wahr, stoßen aber auch auf Ablehnung durch ihre Umwelt. Zu den Aufmerksamkeitsdefiziten gesellen sich Gefühlsstörungen, eine erhöhte Impulsivität. In sozialen Situationen schätzen sie sich und andere falsch ein, können auch oppositionelles Verhalten an den Tag legen. Die Kritik kommt dann postwendend. Sie werden bloßgestellt und zum Außenseiter gemacht. Durch ihre erhöhte Sensibilität leiden sie enorm daran. Sie wollen doch so aufmerksam sein wie alle anderen, aber es gelingt ihnen nicht. In ihrem weichen Kern verstehen sie nicht, warum sie nicht einfach sein dürfen. Dieser Leidensdruck führt zu einer inneren Abwärtsspirale, die sie etwa durch Clownerie zu überdecken versuchen oder sie greifen andere an, werden hämisch, manche ziehen sich innerlich zurück. Das führt zu noch mehr Ärger und Kritik, die Spirale dreht sich immer tiefer und alle beschäftigen sich nur noch mit ihren Schwächen.

Was können wir denn AD(H)S vom christlichen Menschenbild her entgegenhalten? Gibt es dort nicht noch andere Chancen und Lösungen?

Joachim Kristahn:

Unser Ansatz bei IGNIS heißt „Stärken stärken, Schwächen schwächen“. Psalm 139 spricht davon, dass wir im Verborgenen gewoben wurden. Das hebräische Wort umschreibt das Weben kostbarer Stoffe unter Einbezug von Gold- und Silberfäden. Diese Gold- und Silberfäden gilt es zu entdecken und aufzurichten. Den Schwächen stehen Stärken gegenüber. Die kann man bewusst machen und fördern. Das versuchen wir beispielsweise in unserem AD(H)S-Online-Stärkentraining zu vermitteln.  Die biblische Botschaft, dass da, wo wir mit Gott versöhnt leben, Friede herrscht, ist eine große Chance. Innerer Friede steht der Unruhe, die mit AD(H)S einhergeht, entgegen. Es ist sowohl Hoffnung als auch konkrete Erfahrung für diese Menschen, dass das Leben mit Jesus zur ersehnten inneren Ruhe führt und damit auch zu mehr Konzentration. Kolosser 3,15 sagt, wir sind zum Frieden Christi berufen und dieser Friede soll in unseren Herzen regieren. Das umschreibt einen geistlichen Wachstumsprozess, der im Einzelfall sehr lange Zeit in Anspruch nehmen kann, in den wir aber auch schon Kinder und Jugendliche behutsam mit hinein nehmen dürfen. Eigentlich brauchen wir alle eine innere Ruhe in dieser hektischen Zeit. AD(H)S fordert uns heraus zu fragen, ob wir im Alltagtreiben noch das Wesentliche im Fokus haben oder eher unruhig und wie getrieben durchs Leben hasten.

Wie muss man sich so ein Trainingsprogramm vorstellen?

Joachim Kristahn:

Den Umgang mit Gefühlen wie etwa Wut oder Begeisterung kann man einüben. Beispielsweise kann man lernen, den Gefühlen einen Namen zu geben. „Bin ich enttäuscht? Oder ärgerlich? Eher traurig oder wütend?“ Das gibt einem eine Basis, um entscheiden zu können, was eigentlich los ist. Als nächsten Schritt überlege ich, wie ich damit fertig werde. „Soll ich zur Person hingehen? Soll ich meine Wut am Boxsack auslassen? Soll ich vielleicht erst Gott um Hilfe bitten und dann das Gespräch suchen?“ Kinder brauchen für diese Schritte Trainer, die ihnen helfen und Möglichkeiten aufzeigen. Dazu nutzen wir die Kinder-Mut-Mach-Programme. Kinder sollen frühzeitig lernen, sich dem Leben und dem Schmerz zu stellen, damit sie eine Idee davon bekommen, wo sie damit hinkönnen. Im Kinder-Mut-Mach-Programm „Ich stelle mich meinen Gefühlen“ gibt es etwa die Gefühle-Kiste, bestückt mit Taschentüchern, Sportschuhen, Boxhandschuhen, einem Telefon, einem Tagebuch und anderem. Das Kind kann konkret entscheiden: „Was mache ich jetzt mit meiner Wut? Wen rufe ich an? Was schreib ich in mein Gebetstagebuch?“ So lernen sie, ihre Gefühle mit Gott zu besprechen und erleben, wie Gott ihre Gebete erhört und manchmal auch Wunder tut. Ich erinnere mich zum Beispiel an einen Vater, der nach einigen Jahren zur Familie wieder Kontakt aufnahm und sich entschuldigte, dass er mit einer anderen Frau weggegangen war. Er kam dann regelmäßig. Seine Tochter hatte nach einer langen Zeit des inneren Schmerzes wieder angefangen anhaltend genau dafür zu beten.

Wie kann man auf dieser emotionalen Basis das Lernen allgemein unterstützen?

Joachim Kristahn:

Bei AD(H)S funktionieren zwei Lernwege. Einerseits gibt es den direkten Weg, der bei hoher Motivation, positiven Gefühlen und Spezialthemen funktioniert. Da rutscht der Lerninhalt direkt ins Langzeitgedächtnis. Der andere Weg kommt bei uninteressantem, nicht motivierendem Lernstoff zum Tragen und der heißt: wiederholen, wiederholen, wiederholen! Jeder Mensch braucht so etwas, AD(H)S-Betroffene ganz besonders. Sie müssen einen einzigen Lösungsweg – nicht viele Lösungsvarianten – verinnerlichen können, bis er sich automatisiert. Gute Beziehungen, Kreativität, Abwechslung, Farbe, Bewegung und Einbezug der Kinder und Jugendlichen machen einen Unterschied, der Betroffenen und allen anderen entgegen kommt!

Fragen an:

Joachim Kristahn ist Dipl.-Psychologe und Therapeut, Leiter einer AD(H)S- Beratungsstelle.

Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Zeitschrift „Christliches Zeugnis (CZ)“.

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