Gnadenlos aufwachsen

Immer wieder begegnen mir Jugendliche, bei denen ich den Eindruck habe, dass ihr christliches Aufwachsen negative Auswirkungen auf ihre Persönlichkeit hat. Was sind die Gründe dafür, dass christliche Prägung trotz positiver Absichten negative Auswirkungen auf die Persönlichkeit haben kann?
Gnadenlos aufwachsen

Sie sitzt vor mir und weint.

Ich kann nicht daran glauben, dass Gott mein liebender Vater ist. Alles, was ich von meinen Eltern und in der Gemeinde gehört habe, war: Du musst das tun! Das darfst du nicht machen!

Immer wieder sind mir auf Freizeiten Jugendliche begegnet, bei denen ich den Eindruck hatte, dass ihr christliches Aufwachsen negative Auswirkungen auf ihre Persönlichkeit hatte. Und das ist schlimm – besonders, weil Jesus uns ja nicht krank, sondern gesund machen will. Aber was sind die Gründe dafür, dass christliche Prägung trotz positiver Absichten negative Auswirkungen auf die Persönlichkeit haben kann?

Ursachen

In vielen Büchern und auf zahlreichen Seiten im Internet findet man Berichte über negative Auswirkungen einer frommen Erziehung auf Kinder und Jugendliche. Dabei wird unter anderem von ekklesiologischen Neurosen gesprochen – seelischen Fehlhaltungen und -entwicklungen, die aus einem falsch verstandenen Glauben entstanden sind. Manchmal sind die Fehlentwicklungen so schlimm, dass sich die Betroffenen in eine Therapie begeben. Mein Eindruck ist, dass noch viel häufiger alltäglich erscheinende Probleme wie mangelnder Selbstwert, eine ängstliche oder angepasste Persönlichkeit oder rebellisches Verhalten die Folge sind.

Obwohl ich den Erklärungen und Folgerungen der Autoren in den meisten Fällen nicht folge, sind viele Gründe, die in diesen Quellen zu finden sind, für uns relevant.

Das Leistungsprinzip

Tu dies! Lass das! Sonst machst du Gott traurig.

Dabei ist es natürlich nicht falsch, Kindern Regeln weiterzugeben. Wenn die Erziehung der Eltern und die Prägung der Gemeinde dabei jedoch nicht in der Gnade Gottes gewurzelt ist, die dem Kind immer deutlich macht, dass es wunderbar geschaffen und auch dann geliebt ist, wenn es Fehler macht, dann führen die Ge- und Verbote dazu, dass die Persönlichkeit verkümmert.

Die Angstmache

`Pass auf, kleines Auge, was du siehst! Denn der Vater im Himmel schaut herab auf dich, drum pass auf, kleines Auge, was du siehst!…

Wenn sich der Glaube über Gebote und Verbote definiert, hat das Folgen für die Entwicklung unserer Kinder. Viele Themen in der Bibel können – wenn sie verkürzt wiedergegeben werden – Kindern und Jugendlichen Angst machen und sie überfordern. Wenn der Gedanke, dass Gott alle Fehler sieht und jederzeit wiederkommen kann, im Mittelpunkt steht und nicht die Wahrheit, dass Gott es gut mit uns meint und sich die Beziehung mit uns wünscht, dann können Kinder zu ängstlichen Persönlichkeiten werden, die beispielsweise neuen Situationen nicht bejahend, sondern immer zuerst mit einem unsicheren Gefühl entgegentreten.

Das Denkverbot

Es ist normal, dass Kinder das Denken und die Normen ihrer Eltern und ihres Umfeldes einfach annehmen. Mit zunehmendem Alter ist es auch normal, dass Dinge in Frage gestellt werden. Wenn das Umfeld diese Fragen nicht zulässt („Wenn du an die Grenzen deines Verstandes kommst, dann musst du einfach glauben.“) oder auf jede Glaubensfrage die einzig richtige Antwort hat, dann kann kein reifer Glaube entstehen. Entweder – so meine Erfahrung – entstehen Mitläufer, die einfach Werte übernehmen und keine Wurzeln entwickeln. Oder es entstehen Rebellen, die sich gegen das Glaubenssystem stellen, wenn sie feststellen, dass es Fehler hat.

Handlungsmöglichkeiten

Auf Freizeiten führe ich immer wieder Gespräche mit jungen Christen, die Probleme mit ihrem Selbstwert haben. In der besonderen Situation der Freizeit können sie mit jemandem reden, dem sie nicht in ihrem Alltag begegnen werden und dem sie sich dann anvertrauen. Mein Wunsch ist, dass sich für diese Jugendlichen auch im „alltäglichen Rahmen“ der Jugendgruppe Türen öffnen, um über ihre Situation zu reden und dass sie hier begleitende Hilfestellungen bekommen.

Vertrauen aufbauen

Zu einer guten Jugendarbeit gehört es, dass die Mitarbeiter Beziehungen zu den Jugendlichen aufbauen – und nicht nur Themen abarbeiten. Zeigt Interesse für die Situation der Jugendlichen, verbringt Zeit miteinander und „verdient“ so ihr Vertrauen. Dann werden sich auch intensive Gespräche über Selbstwert und Ängste ergeben. Oft ist es ein wichtiger Schritt für Jugendliche, diese Dinge aussprechen zu können, ohne dafür verurteilt zu werden.

Die Lage der Jugendlichen einschätzen

In Mitarbeiterbesprechungen sollte dann regelmäßig thematisiert werden, wie die geistliche Situation der Jugendlichen ist. Die geschilderte Problematik trifft ja nicht auf alle Jugendlichen und auf alle Gruppen zu. Bei einigen Gruppen ist das Problem vielleicht eher, dass die Jugendlichen ein überbetontes Verständnis davon haben, dass Gott sie bedingungslos annimmt – und die Jugendlichen machen deshalb, was sie wollen.

Wenn ihr jedoch merkt, dass die Jugendlichen unter religiösem Leistungsdruck leiden, ein ängstliches Glaubensleben führen oder sich davor scheuen, unbefangen über den Glauben nachzudenken, dann solltet ihr darauf reagieren.

Das Gottesbild thematisieren

Eine gute Reaktion kann beispielsweise sein, mehrere Themen über das Gottesbild der Jugendlichen zu machen. Ihr könntet anhand der Geschichte vom verlorenen Sohn aufzeigen, dass Gott trotz aller Fehler mit offenen Armen auf uns wartet. Oder ihr zeigt anhand der Geschichte von Hiob auf, wie er mit all seinen Fragen und Anklagen zu Gott kommt und nicht verurteilt wird.

Das Gespräch mit den Verantwortlichen suchen

Wenn ihr den Eindruck habt, dass eure Gemeinde durch Predigten oder auf andere Art Leistungsdenken fördert, Angst macht oder keinen Raum zum selbstständigen Denken lässt, dann möchte ich euch Mut machen, dies mit den Verantwortlichen liebevoll in einem Gespräch zu thematisieren, damit gerade junge Leute nicht weiterhin diesen negativen Einflüssen ausgesetzt sind.