Ein Blick durch die Schutzschicht

Wir können Menschen tiefer verstehen, wenn wir sie mit Jesu Augen sehen. Dieser Artikel zeigt, was das bedeuten kann
Ein Blick durch die Schutzschicht

„Wo warst du, Gott?“ Diese Frage erscheint immer wieder als Headline einer großen Boulevardzeitung, wenn etwas Schlimmes passiert ist. Der Eindruck wird vermittelt, als sei es Gott völlig egal, wenn eine ganze Familie durch einen Unfall umkommt oder ein Flugzeug abstürzt. Ist Gott wirklich der ferne Gott, den unser Leid nicht kümmert? Hat er sich wirklich zurückgezogen, wie viele Menschen behaupten, und überlässt uns unserem Schicksal?

Der Gott, der sich in der Bibel vorstellt, ist alles andere als ein ferner Gott. Er weiß über Schmerz und Leid genau Bescheid. Schon im Alten Testament erfahren wir:

„Er war verachtet und verlassen von den Menschen, ein Mann der Schmerzen und mit Leiden vertraut.“ (Jesaja 53,3a)

Im Neuen Testament lesen wir:

„Denn wir haben nicht einen Hohenpriester, der nicht Mitleid zu haben vermag mit unseren Schwachheiten, sondern der in allem versucht worden ist in gleicher Weise wie wir, ausgenommen die Sünde.“ (Hebräer 4,15)

Das zeigt, dass Jesus nicht nur selbst gelitten hat, sondern auch Mitleid mit uns hat.

Ein Blick in die Evangelien macht deutlich, wie mitfühlend Jesus wirklich ist. Die Bibel benutzt den Begriff „innerlich bewegt“. Es ist ein Wort, mit dem das Innere des Menschen beschrieben wird. Kenneth E. Bailey erklärt: „Die Griechen und die Hebräer im Osten dachten, der Sitz der Gefühle sei im Bauch. …Die Hebräer nahmen an, der Unterleib sei der Sitz von zärtlichen Gefühlen wie Güte und Mitleid.“ (frei zitiert aus „Der ganz andere Vater“). Dieser Ausdruck drückt also sehr tiefe Gefühle des Mitleids und der Barmherzigkeit aus. An etwa zehn Stellen werden diese Gefühle dem Herrn Jesus zugeschrieben. In welchen Situationen fühlt Jesus ganz besonders mit uns Menschen und was können wir davon lernen?

Jesu Mitgefühl mit Kranken

Wenn der Herr Jesus unterwegs ist, hat er immer wieder Begegnungen mit kranken Menschen.

Markus 1,40-41: „Es kommt ein Aussätziger zu ihm, bittet ihn und kniet nieder und spricht zu ihm: Wenn du willst, kannst du mich reinigen. Und er war innerlich bewegt und streckte seine Hand aus, rührte ihn an und spricht zu ihm: Ich will. Sei gereinigt!“

Stell dir diese Szene vor! Das muss ein schrecklicher Anblick gewesen sein. Wie sehr muss Aussatz einen Menschen entstellen! Wahrscheinlich hätte ich einen Bogen um ihn gemacht. Da ist dieser Mann, der aus Gemeinschaft ausgeschlossen ist, der rufen musste „unrein, unrein.“ Und Jesus? Er sieht ihn an und ist innerlich bewegt. Aber das ist nicht genug. Er streckt seine Hand aus und rührt ihn an. Natürlich will Jesus von ganzem Herzen, dass er rein wird. Dazu ist er ja gekommen!

Bei uns laufen ja nicht so viele Aussätzige rum. Aber stell dir einen Menschen vor, der von der Sünde gezeichnet ist. Wenn wir Menschen mit Jesu Augen sehen, dann werden wir sie nicht verurteilen, sondern sie mit einem tiefen Mitgefühl und mit Barmherzigkeit ansehen, egal wie sehr sie von Sünde entstellt sind. Während wir uns oft von dem Menschen abwenden, schaut Jesus tiefer. Er sieht seine Not, seine Bedürftigkeit und ganz bestimmt auch das Antlitz Gottes, obwohl das oft etwas verdeckt ist.

Der Theologe Helmut Thielicke dachte über die Frage nach, warum Jesus auch krasse Sünder lieben konnte und kam auf diese bemerkenswerte Antwort:

„Das konnte er nur deshalb, weil sein Blick durch die Schmutzschicht und durch die Kruste der Entartung hindurch drang, weil sein Auge das göttliche Original traf, das in jedem Menschen – in jedem Menschen! – verborgen ist.“

In diesem Zusammenhang finde ich es höchst erstaunlich, dass der Vater des „verlorenen Sohnes“ bei dessen Heimkehr innerlich bewegt ist (Lukas 15,20). Anstatt den großen Prügel rauszuholen, fällt er seinem (vermutlich nach Schweinestall stinkendem) Sohn um den Hals. Es tut mir im Herzen weh, wenn ich daran denke, wie oft wir verurteilen anstatt mitzufühlen wie Jesus.

Jesu Mitgefühl mit Trauernden

Obwohl er selbst die Auferstehung und das Leben ist, wird er immer wieder konfrontiert mit diesem „letzten Feind“ des Menschen. Als sein Freund Lazarus stirbt, lässt ihn das nicht kalt und er weint. Auch der Tod eines jungen Mannes aus Nain – er war der einzige Sohn seiner Mutter –bewegt Jesus zutiefst. „Und als der Herr sie sah, wurde er innerlich bewegt über sie und sprach zu ihr: Weine nicht!“ (Lukas 7,13). Er weckt den jungen Mann von den Toten auf und gibt ihn seiner Mutter zurück. Wünschten wir nicht auch manchmal, Angehörigen ihren geliebten Verstorbenen zurückgeben zu können? Stattdessen können wir nur mit ihnen trauern und weinen. Dabei brauchen wir keine klugen Antworten, sondern müssen nur da sein und mitfühlen.

Jesu Mitgefühl mit Bedürftigen

Eine dritte „Kategorie“ ist mir aufgefallen, wo der Herr Jesus innerlich bewegt ist. Er hat großes Mitleid mit Menschen, die hungrig (nach Leben) und orientierungslos sind. Ein Beispiel soll das verdeutlichen: Matthäus 9,36: „Als er aber die Volksmengen sah, wurde er innerlich bewegt über sie, weil sie erschöpft und verschmachtet waren wie Schafe, die keinen Hirten haben.“

Was er sah, war zunächst nur eine Menge Menschen. Doch er schaut tiefer, er schaut ins Herz der Leute und was sieht er da? Er sieht Orientierungslosigkeit und Bedürftigkeit. Die Menschen sind ohne Ziel und ohne Hoffnung, wie eine moderne Übertragung es ausdrückt. Ich habe das selbst erlebt als Jugendlicher. Äußerlich war ich immer gut drauf, innerlich dagegen total leer. Schau dir doch mal die Leute an, die durch die Fußgängerzonen laufen! Versuche, sie mit Jesu Augen zu sehen! Lass dich nicht blenden von Fassaden! Erahne hinter den Masken ihre verborgenen Verletzungen und empfinde mit ihnen!

„Einen Menschen lieben heißt, ihn so zu sehen, wie Gott ihn gemeint hat.“ Dostojewski