Bibeltext ist nicht gleich Bibeltext

Ein Überblick über Literaturgattungen, ihre Merkmale und hilfreiche Anregungen für den Umgang
Bibeltext ist nicht gleich Bibeltext

Was ist ein gutes Buch? Für den einen muss es sachlich sein, spannend oder sprachlich formvollendet. Ein guter Roman muss dramatisch sein, ein Geschichtsbuch informativ und ein Gedicht schön.

So unterschiedlich unser Geschmack ist, so unterschiedlich ist auch das Schriftgut. Für jeden Anlass gibt es die geeignete Literaturgattung. Und jede Literaturgattung soll entsprechend ihren eigenen Regeln gelesen und interpretiert werden.

Ein Gedicht muss betont gelesen werden und ein Sachbuch wird genau studiert.

Auch in der Bibel finden wir unterschiedliche Literaturgattungen (siehe Aufzählung). Sie sprechen in unterschiedliche Situationen hinein und werden zu unterschiedlichen Gelegenheiten gelesen. Welche Merkmale weisen diese Literaturgattungen auf? Nach welchen Regeln können sie richtig gelesen und ausgelegt werden?

Die Geschichtsbücher

Die alttestamentlichen Geschichtsbücher, sowie die Evangelien und die Apostelgeschichte enthalten Berichte über historische Ereignisse. Die inspirierten Autoren wählten die Begebenheiten, unter der Leitung des Heiligen Geistes, um Gottes Botschaft zu untermauern. Sie deuten damit die Geschichte aus der Sicht Gottes.

Beispielsweise redete Jesus wesentlich mehr als das, was wir in den Evangelien lesen (Lukas 24,27). Aber was wir lesen, ist von Gott für uns ausgewählt worden. Es enthält alles, was wir von Jesus und seiner Botschaft wissen sollen.

Bei der Auslegung müssen wir genau auf die Wortwahl, die Auswahl der Ereignisse und Kommentare des Erzählers achten.

In 1. Mose 39 finden wir drei Versionen desselben Vorgangs. Zuerst berichtet der Erzähler die tatsächlich geschehenen Ereignisse (V. 11-12). Um die Sklavinnen auf ihre Seite zu ziehen, berichtet die Frau des Potifar den Ablauf verdreht (V. 14-15). In einem dritten Bericht schildert sie alles ihrem Herrn (V. 17-18).

Die vier Evangelien berichten ausführlich über Jesu letzte Woche, sein Leiden, seinen Tod und die Auferstehung. Nicht seine Heilungen, sondern diese Taten zeichnen das Lebenswerk Jesu aus.

Die Apostelgeschichte als apologetisches Buch verteidigt den christlichen Glauben. Dazu dienen die fünf Missionsreden (Kapitel 2; 3; 10; 13; 17), die neun Verteidigungsreden (Kapitel 4; 7; 11; 15; 22; 23; 24; 26; 28) und die Hinweise, dass die Obrigkeit dem christlichen Glauben neutral oder positiv gegenüberstand (Apostelgeschichte 16,35 39; 18,12- 17; 19,31).

Die poetischen Bücher

Die poetischen Bücher des ATs werden als Gedichte ausgelegt. Dabei müssen die Regeln der hebräischen Gedichtsschreibung beachtet werden, vor allem der sogenannte Parallelismus membrorum (Übereinstimmung der Glieder). Er beschreibt die rhythmische, grammatikalische und/oder bedeutungsmäßige Zuordnung von zwei oder drei Verszeilen zu einem Vers. In Ausnahmen auch die Zugehörigkeit weniger aufeinanderfolgender Verse zu einem Abschnitt. Die erste Zeile wird durch die inhaltlich ähnliche, gegensätzliche oder erläuternde zweite Zeile interpretiert. Poetische Verse wollen daher als Ganzes verstanden werden. Die Aussage liegt nicht in den einzelnen Worten oder Zeilen, sondern in der Gemeinsamkeit oder Gegensätzlichkeit des gesamten Verses.

So will Psalm 19,2 keine naturwissenschaftliche Aussage machen, als ob der Himmel ein Gewölbe hätte. Er sagt aus, dass Gottes Herrlichkeit an seinen Werken unter dem Himmel erkannt werden kann. Psalm 37,9 stellt einen Gegensatz heraus, zwischen Übeltätern und denen, die auf den Herrn hoffen. Er bezeugt, dass die einen sterben und die anderen leben werden.

Stilfiguren sind ein weiteres wichtiges Stilmittel hebräischer Poesie.

Darunter versteht man die bildhafte Beschreibung abstrakter Dinge. So sagt Psalm 18,3 nicht, dass der Herr ein Stein, Gebäude oder Metallstück sei. David drückt aus, wie er den Beistand und die Hilfe des Herrn empfand.

Die prophetischen Bücher

Auch die alttestamentliche prophetische Literatur ist in poetischer Form verfasst. So gelten für ihre Auslegung dieselben Regeln, wie für die poetische Literatur. Allerdings unterscheidet sich die Zielsetzung. Prophetische Literatur möchte ihre konkrete Audienz warnen, zurechtweisen oder erbauen. In der Regel hat sie gegenwartsbezogene und zukunftsbezogene Elemente. Die gegenwartsbezogenen Elemente warnen das Volk vor Sünde und rufen zur Umkehr. Die zukunftsbezogenen Elemente machen auf die Konsequenzen für den Empfänger aufmerksam, wenn er die Warnungen und den Ruf zur Umkehr nicht befolgt. Schließlich werden auch tröstende Verheißungen Gottes ausgesprochen, die zeigen, dass der Herr sie wieder annehmen wird.

Die Propheten stellen ihre Botschaft auf das bereits offenbarte Wort Gottes. Hieraus folgt:

  1. Dass die Prophetien zunächst in ihrem jeweiligen historischen — meist israelitischen — Kontext verstanden werden müssen.
  2. Die Aussagen der Propheten sind theologisch nicht neu. Sie sind eine von Gott inspirierte Anwendung des bereits Offenbarten auf die zeitgenössische Situation des Propheten oder zukünftiger Generationen.
  3. Die Voraussage der Zukunft ist lediglich ein Teil der Botschaft der Propheten. Eigentlich beinhaltet sie den Ruf zur Umkehr und die Warnung, welche Folgen die Missachtung bringt (2. Könige 17,13-14 + 22-23).
  4. Viele Prophetien sind an Bedingungen geknüpft. Sie trifft ein, wenn die Voraussetzungen erfüllt sind (Jeremia 18,7-10).
  5. Prophezeiungen können mehrere Erfüllungen haben. So müssen wir zwischen bereits erfüllter und noch nicht erfüllter Prophetie unterscheiden.

Beispiele: Die Verheißung des neuen Bundes (Jeremia 31,31-34) richtet sich, wie der Kontext V. 27- 40 verdeutlicht, historisch zunächst an das Volk Israel. Sie muss zunächst als israelitische Nationalverheißung verstanden werden.

Erst im Neuen Testament (Hebräer 8,6-13; 10,14 -18) wird sie auf alle Christen ausgedehnt. König Josia erhält die prophetische Verheißung, dass er im Frieden sterben werde (2 Könige 22,18-20). Da er nicht auf Gottes Wort hörte, wurde diese Prophetie nicht erfüllt (2. Chronik 35,22).

Die Prophezeiungen Joels, die mit der Sendung des Heiligen Geistes verbunden sind (Joel 3), sind zu Pfingsten nur zum Teil erfüllt worden. Der Heilige Geist ist gekommen und leitet Menschen aller sozialen Schichten zum Weissagen an (Apostelgeschichte 2). Die prophezeiten Naturkatastrophen stehen bislang noch aus.

Die Briefe

Bei der Auslegung der Briefe ist also in besonderer Weise die Situation der Empfänger zu berücksichtigen.

Die neutestamentlichen Briefe sind ebenfalls an eine spezielle (seltener allgemeine) Audienz geschrieben worden. Paulus schreibt an die Römer, dass Christus des Gesetzes Ende ist (Römer 10,4) und an die Galater, dass das Gesetz unser Zuchtmeister (Lehrer, Guide) auf Christus hin ist (Galater 3,24). Jakobus spricht von der Rechtfertigung aus Werken (Jakobus 2,14). Im Römerbrief macht Paulus also eine solide theologische Aussage. Der Galaterbrief kann besonders auf solche Gemeinden angewendet werden, die in der Gefahr stehen, die Errettung aus dem Halten von Gesetzen zu erwarten und nicht allein aus dem Glauben an Jesus Christus. Der Jakobusbrief korrigiert Leser, aus deren Glauben keine Taten folgen.

Die apokalyptischen Bücher

Im Alten und Neuen Testament finden wir jeweils ein apokalyptisches Buch. Apokalyptische Literatur hat das Ziel die Audienz zu ermahnen, zu trösten oder zur Umkehr zu rufen. Dazu benutzt sie das Mittel der Voraussage von sicher eintreffenden Ereignissen. Sie ist nicht an Bedingungen geknüpft.

Ein fester Bestandteil der apokalyptischen Bücher ist ein einleitender historischer Teil (Daniel 1–6; Offenbarung 1–3), der den eigentlich apokalyptischen Teil autorisiert.

Apokalyptische Literatur zeichnet sich durch einen hohen Gehalt an symbolischer Sprache aus.

Die Worte und Begriffe der Texte sind meist nicht wörtlich, sondern symbolisch zu verstehen. So steht ein Tier für widergöttliche Mächte, während ein apokalyptisches Jahr 360 Tage hat. Nicht immer ist deutlich, ob ein Ausdruck wörtlich oder symbolisch zu verstehen ist (z.B. Offenbarung 13,18). Tröstlich ist, dass auch die biblischen Autoren nicht alles verstanden haben (Daniel 12,8).In vielen Büchern finden wir mehr als eine Literaturgattung. So enthalten einige Geschichtsbücher und Briefe Gedichte (2. Mose 18; Kolosser 1) und prophetische Bücher erzählende (Hiob 1–2; Jesaja 36–39) oder apokalyptische (Joel 3–4; Sachar-ja 1–6) Abschnitte. Solche Abschnitte müssen im Kontext des gesamten Buches gelesen werden