Schattenbilder und Wirklichkeit

In welchem Licht steht das Alte Testament zum Neuen Testament? Wie kann man mit dem AT umgehen?
Schattenbilder und Wirklichkeit
„Hie wirstu die windeln und die krip-pen Ḁnden, da Christum ynnen ligt…, schlechte und geringe windeln sind es, aber theur ist der schatz Christus, der drynneb ligt.“

Dieses Zitat stammt aus der Feder Martin Luthers, der es in seiner Vorrede zum Alten Testament 1523 niederschrieb. Unzählige Theologen, Bibellehrer und ganz normale Christen haben sich die Haare gerauft, den Kopf verständnislos geschüttelt, gestritten, diskutiert und debattiert. Aber viele staunen auch über die lutherische „Testamentsmetapher“. Sie lesen das Alte Testament mit einer neuen Sichtweise. Für Luther stand fest, dass die Unterscheidung des Neuen Testamentes vom Alten Testament christologisch zu verankern ist. Er schreibt, dass in Christus, dem „Testamentsmacher Gottes“, alles zusammen läuft: Christus steht für die Einheit der Testamente und damit für die Einheit der ganzen Schrift. Christus ist es, der das Alte Testament zur Klarheit bringt. Er sagt selbst:

„Wer an mich glaubt, wie die Schrift gesagt hat, aus seinem Leibe werden Ströme lebendigen Wassers fließen. Dies aber sagte er von dem Geist, den die empfangen sollten, die an ihn glaubten; denn noch war der Geist nicht da, weil Jesus noch nicht verherrlicht worden war“ (Johannes 7,38+39).

Die Schrift und der Geist gehören zusammen. Das eine kann ohne das andere nicht sein. Der Herr Jesus selbst spricht von den alttestamentlichen Zeugnissen, vom Gesetz und den Propheten. Es gilt, den Herrn Jesus in der Schrift auszumachen:

  • ihn zu suchen,
  • ihn zu erkennen,
  • ihn zu erfassen und
  • ihm zu glauben.

Dazu benötigen wir den Heiligen Geist, der auf den Herrn Jesus deutet. Er führt uns an die Wahrheiten Gottes heran. Er zwingt sich allerdings niemals auf. Er wartet darauf, dass wir uns ihm öffnen, dann wird er zu einer sprudelnden Quelle. Allzu oft sind unsere Gedanken-Kanäle verstopft. So kann er nicht frei fließen. Er ist verhindert, er wird gedämpft und aufgehalten.

Sorge dafür, dass er strömt!

Die Schwierigkeiten der christologischen Auslegung

Begeistert aufgenommen werden allegorische Schriftdeutungen, die allerdings wenig mit schriftgemäßer Exegese (Auslegung) zu tun haben. Sie gehören in das Reich der Fantasie. Manchmal können sie sich aber auch zu gefährlichen Irrlichtern mit verheerenden Folgen entwickeln. Deswegen ist Vorsicht geboten. Allegorie (griech.) meint: „etwas anders ausdrücken“. Es ist eine indirekte Aussage, bei der eine Sache (Ding, Person, Vorgang, abstrakter Begriff) aufgrund von Ähnlichkeits- und/oder Verwandtschaftsbeziehungen als Zeichen einer anderen Sache eingesetzt wird.

Martin Luther schrieb schon 1513 treffend:

„Wann immer ich einen Text von der Art einer Nuss habe, dessen Schale mir hart ist, schleudere ich ihn alsbald an den Felsen (Christus) und finde den köstlichen Kern.“

Wenn auch der Denkansatz Luthers eine recht einfache Antwort wiedergibt, so ist eine sorgfältige Auslegung auch immer „schweißtreibende Arbeit“. Dazu bedarf es einer guten Kenntnis der gesamten Heiligen Schrift, sowohl des Alten als auch des Neuen Testamentes.

Einige Grundsätze für die alttestamentliche Auslegung

Bei der Exegese des Alten Testamentes gilt es, verschiedene Grundsätze zu beachten:

  • Die Schrift legt die Schrift aus.
  • Die Schrift redet nicht immer von uns (Christen); sie redet aber immer zu uns.
  • Vom Neuen Testament herkommend, ist es nötig und möglich das Alte Testament zu verstehen.
  • Wir müssen immer den heilsgeschichtlichen Zusammenhang beachten.
  • Prophetische Exegese fragt: Was geht über den historischen Rahmen hinaus?
  • Historische Exegese fragt: Was haben die Menschen (Ersthörer) damals verstanden?
  • Heutige Anwendung fragt: Wo ist die immer gültige geistliche Wahrheit, die über den historischen Rahmen hinausgeht?
  • Christozentrische Exegese fragt: Wo ist Christus in der Schrift?

Schattenbilder und Wirklichkeit

Die Bibel gebraucht den Begriff des Schattens bzw. der Vorschattung. In Hebräer 8,5 wird das bei-spielhaft deutlich gemacht: „…die dem Abbild (hypodeigma) und Schatten (skia) der himmlischen Dinge dienen, wie Mose eine göttliche Weisung empfing, als er im Begriff war, das Zelt aufzurichten; denn ‚Sieh zu‘, spricht er, ‚dass du alles nach dem Muster (typos) machst, das dir auf dem Berge gezeigt worden ist!‘“

Der Begriff „hypodeigma“ (griech.) bedeutet Nachbild oder Abbild. Das Wort „skia“ (griech.) heißt Schatten. Nur der Umriss des Dargestellten ist zu erkennen. Als Gegenbegriff hierzu wird „soma“, der Körper, gebraucht (Kolosser 2,17). Ein Schatten entsteht, wenn Licht auf einen Gegenstand fällt, den es nicht durchdringen kann. Das so entstehende Schattenbild hat Ähnlichkeit mit dem Körper, besitzt aber nicht sein Wesen.

Biblische Schattenbilder bezeichnen eine Person, eine Einrichtung oder eine Begebenheit, die Gott dazu bestimmt hat, eine zukünftige Person oder Sache schattenhaft darzustellen. Dabei ist die Wirklichkeit immer wichtiger als die „Vorschattung“. Die meisten Schattenbilder erscheinen im Alten Testament, die Wirklichkeit im Neuen Testament.

Die meisten Schattenbilder erscheinen im Alten Testament, die Wirklichkeit im Neuen Testament.

„typos“ (griech.) bedeutet Muster, Urbild, Vorbild. Die Gegenstände der Stiftshütte waren „Abbilder der Dinge in den Himmeln“ (Hebräer 9,23). Bevor die Stiftshütte gebaut wurde, zeigte Gott Mose das Urbild bzw. das Muster. Die Stiftshütte und ihre Geräte sind ein Vorbild, ein Schatten auf Christus. Christus, der Körper, wirft den Schatten voraus.

Durch Christus werden die Urbilder Wirklichkeit und machen die Abbilder und Schattenbilder hinfällig.

Das ist eine ganz gewaltige und zugleich wunderbare Tatsache, die uns die Heilige Schrift hier vor Augen hält!

Darum:

Nähme man Christus aus der Schrift, so fände man überhaupt nichts in ihr. (Martin Luther 1523)