Das Bilderbuch der Apostel

Wie man Ereignistexten in den Evangelien auf die Spur kommt und wie man zusammenhängende Texte erarbeiten kann
Das Bilderbuch der Apostel
Was wäre bloß, wenn Sonntagschullehrer / Kindergottesdienstmitarbeiter die Ereignistexte aus den Evangelien nicht hätten?
Ereignistexte aus den Evangelien sind Lehrtexte der Apostel, gewissermaßen in Bilderbuchform.

Jeder einzelne Text hat seinen Fokus

Nehmen wir als Beispiel die Heilung des Gelähmten aus Markus 2,1-12. Er wird von vier Freunden zu Jesus gebracht und schließlich von ihm geheilt. Der aufmerksame Leser stellt sehr schnell fest, dass der Fokus des Textes NICHT bei dem Heilungswunder liegt. Wir schauen uns den Text genauer an:

  • Und nach einigen Tagen ging er wieder nach Kapernaum hinein, und es wurde bekannt, dass er im Hause sei.
  • Und es versammelten sich viele, so dass sie keinen Platz mehr hatten, nicht einmal vor der Tür; und er sagte ihnen das Wort.
  • Und sie kommen zu ihm und bringen einen Gelähmten, von vieren getragen. Und da sie wegen der Volksmenge nicht zu ihm hinkommen konnten, deckten sie das Dach ab, wo er war; und als sie es aufgebrochen hatten, lassen sie das Bett hinab, auf dem der Gelähmte lag. Und als Jesus ihren Glauben sah, spricht er zu dem Gelähmten: Kind, deine Sünden sind vergeben. Es saßen dort aber einige von den Schriftgelehrten und überlegten in ihren Herzen: Was redet dieser so? Er lästert. Wer kann Sünden vergeben außer einem, Gott? Und sogleich erkannte Jesus in seinem Geist, dass sie so bei sich überlegten, und spricht zu ihnen: Was überlegt ihr dies in euren Herzen? Was ist leichter? Zu dem Gelähmten zu sagen: Deine Sünden sind vergeben, oder zu sagen: Steh auf und nimm dein Bett auf und geh umher? Damit ihr aber wisst, dass der Sohn des Menschen Vollmacht hat, auf der Erde Sünden zu vergeben – spricht er zu dem Gelähmten: Ich sage dir, steh auf, nimm dein Bett auf und geh in dein Haus! Und er stand auf, nahm sogleich das Bett auf und ging vor allen hinaus, so dass alle außer sich gerieten und Gott verherrlichten und sagten: Niemals haben wir so etwas gesehen!

Es ist leicht zu erkennen, dass das Thema des Textes „Sündenvergebung“ ist. Das eigentliche Ziel Jesu ist nicht die Heilung. Stattdessen geht es um die Frage: Wer kann Sünden vergeben? Der Verlauf dieser Begebenheit unterstreicht dies deutlich:

  • Anstatt die Erwartungen der Leute zu erfüllen und den Gelähmten zu heilen, tut er dies zunächst nicht, sondern sagt ihm zu: „Deine Sünden sind dir vergeben“ (2,5).
  • Es ist regelrecht provokant, was Jesus hier tut. Und verärgert stellen die Schriftgelehrten die Frage: „Wer kann Sünden vergeben außer einem, Gott?“ Sie empfinden dies als Gotteslästerung und hätten damit auch gar nicht Unrecht gehabt, wenn er die „heikle Situation“ nicht aufgelöst hätte.
  • Nach jüdischem Verständnis standen Sünde und Krankheit in einer ursächlichen Verbindung zueinander (siehe die Frage der Jünger bezüglich des Blindgeborenen in Johannes 9,2: Wer hat gesündigt, dieser oder seine Eltern?). Die jüdische Logik ließ nur zwei Möglichkeiten zu: Wenn er tatsächlich Sünden vergeben kann, dann muss er ihn auch heilen können, denn die Ursache für seine Krankheit ist ja irgendeine seiner Sünden. Oder: Wenn er ihn nicht heilen kann, dann ist er ein Scharlatan und hat tatsächlich Gotteslästerung begangen.
  • Markus 2,9 macht deutlich, dass Jesus genau dieser Logik folgt. Und so bringt er die Sache auf den Punkt, indem er vollmächtig befiehlt: „Damit ihr aber wisst, dass der Sohn des Menschen Vollmacht hat, auf der Erde Sünden zu vergeben – spricht er zu dem Gelähmten: Ich sage dir, steh auf, nimm dein Bett auf und geh in dein Haus!“ Das dann folgende Wunder ist die eindrückliche Bestätigung für das, was er vorher gesagt hat.

Wir sehen also, der Fokus dieses Textes ist die überzeugende Vorstellung, dass er wirklich Vollmacht hat Sünden zu vergeben. Erkennbar ist dies für uns unter anderem, an der relativen Häufigkeit des Begriffes „Sünde“ im Text und den damit verbundenen Aussagen.

Den Fokus im Text entdecken – durch Schlüsselbegriffe

„Sünde“ bzw. „Vergebung“ sind in diesem Text die Schlüsselbegriffe (häufig auftauchende Substantive, Verben oder Adjektive, die den inhaltlichen Schwerpunkt des Textes herausstellen). Über solche Schlüsselbegriffe kommt man in vielen Ereignistexten dem Fokus auf die Spur. Das Beste ist, man kennzeichnet sie farbig.

Den Fokus im Text entdecken – durch den Spannungshöhepunkt

Eine andere Möglichkeit den Fokus zu entdecken, ist der „Spannungshöhepunkt“. Jeder Ereignistext enthält eine gewisse Dramaturgie (den Spannungsbogen). Wie der Regisseur im Krimi oft durch die Musik deutlich macht wo es am spannendsten ist, so benutzt der Erzähler der Evangeliengeschichten gerne den Spannungsbogen. In unserem Text fängt es richtig an zu knistern, als Jesus dem Gelähmten die Sünden vergibt, Die hintereinander gefügten Ereignistexte der Evangelien gehören zusammen. anstatt ihn zu heilen. Die Spannung nähert sich dem „Siedepunkt“ als Jesus sagt: „Was ist leichter? Zu dem Gelähmten zu sagen: Deine Sünden sind vergeben, oder zu sagen: Steh auf und nimm dein Bett auf und geh umher?“ Durch diese Schilderung wird der Zuhörer so richtig in das Geschehen involviert. Gespannt wartet er darauf, was denn nun als nächstes passieren wird? Folgt die große Blamage oder wird das Unglaubliche geschehen? Und genau an dieser Stelle liegt der Spannungshöhepunkt des Textes.

Diese starken Textaussagen, unterstützt durch eine spannende Szene, nutzten die Apostel, um ihre Zuhörer in einem  bestimmten Thema zu unterweisen. In unserem Fall geht es um die Frage: „Wer kann das Problem der Sünde lösen?“.

So hatten sie es von Jesus gelernt – so brachten sie es ihren Schülern bei, um Lehraussagen besser merkbar zu machen.

Mehrere Ereignistexte hintereinander bilden Unterpunkte zu einem Lehrthema

Oft wird übersehen, dass hintereinander gefügte Ereignistexte in den Evangelien, in einem thematisch inneren Zusammenhang stehen. Und auf den ersten Blick erscheint es zusammenhangslos: Was hat die Geschichte von dem Aussätzigen in Markus 1,40-45 mit der anschließenden Geschichte von der Heilung des Gelähmten zu tun? Und was hat die dann folgende Begebenheit von der Berufung des Levi (Markus 2,14-17) mit dem vorausgehenden Text zu tun? Es sind drei Einzelereignisse. Jeder Einzeltext hat seinen Fokus und die Handlungen als solche sind nicht miteinander verknüpft.

Doch schauen wir etwas genauer hin: In Markus 1,40-45 kommt ein Aussätziger zu Jesus und sagt: „Wenn du willst, kannst du mich reinigen.“ ( V. 40). Aussatz war eine schlimme Krankheit. Aussätzige durften nicht mehr in der Gemeinschaft mit den Gesunden leben und sie durften auch nicht mehr am religiösen Leben in der Synagoge bzw. im Tempel teilnehmen. Aussatz wirkte trennend, sowohl auf gesundheitlichem als auch auf rituellem Gebiet. Aussätzige wurden als unrein angesehen. Geistlich betrachtet symbolisiert Aussatz also die Trennung des Menschen von Gott, verursacht durch die Sünde (der Mensch ist seit dem Sündenfall unrein vor Gott). Die Frage bzw. die Bitte des Aussätzigen beantwortet Jesus mit: „Ich will, sei gereinigt.“  Wenn Jesus also tatsächlich die Trennung zwischen Mensch und Gott beseitigen will, welches Problem muss er dann lösen? Das Problem der Sünde. Und genau darum geht es in dem folgenden Text in Markus 2,1-12. Der thematisch innere Zusammenhang zwischen diesen beiden Texten ist offensichtlich.

Und wie ist es mit dem Text, der der Heilung des Gelähmten folgt? In Markus 2,14-17 geht es um die Berufung des Levi. Er war ein Zöllner. Als Jesus ihn rief, ließ er alles stehen und liegen und folgte ihm nach. Zöllner wurden damals als schlimme Sünder angesehen, weil sie mit den Römern kooperierten. Als die Schriftgelehrten mitbekamen, dass Jesus zu Gast im Haus von Levi war und dass noch viele andere Zöllner und Sünder dabei waren, protestierten sie und sagten: „Mit den Zöllnern und Sünder isst er?“ (Markus 2,16). Sie fanden dieses Verhalten absolut fehl am Platz. In seiner Antwort macht Jesus deutlich, worum es ihm wirklich geht: „Nicht die Starken brauchen einen Arzt, sondern die Kranken. Ich bin nicht gekommen, Gerechte zu rufen, sondern Sünder.“ (Markus 2,17).  Es fällt auf, dass es schon wieder um das Thema „Sünde“ geht, diesmal speziell um „Sünder“ und ihr ehemals übles Leben. Der Fokus liegt also bei Menschen, die sich bereits für die Jesus-Nachfolge entschieden haben, die aber aufgrund ihrer Vergangenheit noch verstärkt Heilung durch den „Arzt der Seele“ benötigen.

Drei aufeinander folgende Texte –  dreimal geht es um Sünde:

  • Thema zu Markus 1,40-45: Trennung = Jesus will das Problem der Trennung zwischen Mensch und Gott (Sünde) beseitigen
  • Thema zu Markus 2,1-12: Vergebung = Jesus hat die Vollmacht Sünden zu vergeben
  • Thema zu Markus 2,14-17: Heilung = Der Seelenarzt Jesus heilt Wunden der Vergangenheit, die durch sündiges Leben entstanden sind

Durch Beobachtungsraster dem Textthema auf der Spur

Der mögliche Zusammenhang von aufeinander folgenden Textabschnitten lässt sich gut durch Beobachtungsraster erkennen. (Siehe Beispiel) Nach diesem Prinzip kann man Beobachtungsraster für jedes Kapitel erstellen. Man muss nur die Beobachtungskriterien dem Inhalt der jeweiligen Texte anpassen, denn nicht alle im Beispiel genannten Beobachtungspunkte tauchen in allen Ereignistexten der Evangelien auf.

Wie geht man nun vor? Zunächst gilt es jeden einzelnen Text zu erarbeiten, wie oben beschrie-ben. Dann beobachtet man die Texte eines Sinnabschnitts, indem man sich das Beobachtungsraster zur Hilfe nimmt. Je gründlicher wir Ziel ist es NICHT, ein Raster auszufüllen, sondern den thematischen Inhalt der Texte genauer in den Blick zu bekommen beobachten, desto mehr werden wir entdecken. Trifft eins der Beobachtungskriterien auf den jeweiligen Ereignistext zu, dann macht man sich entsprechend kurze Notizen in dem Raster. Sonst lässt man dieses Kästchen frei. So arbeitet man sich durch alle zu beobachtenden Texte eines Sinnabschnitts (oft passen die Kapiteleinteilungen sehr gut). Ziel ist es NICHT, ein Raster auszufüllen, sondern den thematischen Inhalt der Texte genauer in den Blick zu bekommen.

Schließlich kommt man zu dem Punkt „Themenbereich“. Hier versucht man mit einem Wort zum Ausdruck zu bringen, worum es thematisch geht. Z. B. siehe oben: Trennung oder Vergebung oder Heilung. Danach versucht man eine Themenüberschrift zu formulieren: Jesus will das Problem der Trennung zwischen Mensch und Gott beseitigen, usw. Abschließend geht es darum, eine thematische Gesamtüberschrift über das gesamte Kapitel bzw. den Sinnabschnitt zu setzen. Wichtig: die Überschriften sollen nicht bloß die Ereignisse beschreiben, sondern sollen eine thematische Aussage formulieren. In unserem obigen Text ist der Anfang gemacht. Du kannst versuchen in Bezug auf die verbleibenden Texte (Markus 2,18-22 und 2,23-28) weiterzuarbeiten.

Die Evangelien sind mehr als Geschichten

Hinter der Sortierung des Textmaterials der jeweiligen Evangelienschreiber, steht der Heilige Geist. Als die Apostel (Matthäus und Johannes) und die Apostelschüler (Markus und Lukas) ihre Texte niederschrieben, verfolgten sie durch ihn eine ganz bestimmte Absicht. Es ging um mehr als eine Bio-graphie des Lebens Jesu. Sie benutzen die Ereignisse aus dem Leben des Herrn, um damit Lehre der Apostel zu veranschaulichen. Dadurch erklärt sich das teilweise hohe Maß an Übereinstimmung der Synoptikertexte und trotzdem ihre beabsichtigte Unterschiedlichkeit. Wer sich betend auf die Spur dieser Geheimnisse macht und viel Fleiß investiert, wird entdecken

„was kein Auge gesehen, was kein Ohr gehört und was in keines Menschen Herz gekommen ist, was Gott aber denen offenbart, die ihn lieben (nach 1. Korinther 2,9-10)“.